Impfstoff bekommt man in Amerika inzwischen fast überall: in Apotheken, in Supermärkten, an Drive-Through-Stationen – Autoscheibe herunterfahren, Ärmel hochkrempeln, ein kurzer Stich, das war’s. In New York ziehen abends sogar Krankenschwestern von Bar zu Bar und bieten übrig gebliebene Dosen an. Ein Drittel der US-Bevölkerung ist inzwischen vollständig geimpft, das entspricht mehr als 100 Millionen Bürgern.
Amerika, so scheint es, könnte das Virus bald unter Kontrolle bekommen. Die Verteilung der Impfstoffe kommt so gut voran, dass die Regierung ihre Aufmerksamkeit nun auf andere Weltregionen legt – auf Indien und Südafrika zum Beispiel, wo die Lage derzeit dramatisch ist. Um diesen Ländern zu helfen, hat Washington am Mittwoch einen Schritt angekündigt, den manche für radikal halten: Das Weiße Haus will eine vorübergehende Aussetzung des Patentschutzes für Corona-Vakzine erreichen.
„Wir haben es mit einer globalen Gesundheitskrise zu tun“, sagte Katherine Tai, die US-Handelsbeauftragte. „Und die außergewöhnlichen Umstände erfordern außergewöhnliche Maßnahmen.“ Zwar glaube das Weiße Haus fest an den Schutz geistigen Eigentums – aber die Versorgung der Erde mit Impfstoff habe Vorrang. Deshalb werde sich die Regierung bei der Welthandelsorganisation (WTO) für eine Ausnahmeregelung einsetzen. „Die Impfstoffe für das amerikanische Volk sind gesichert“, sagte Tai, „nun werden wir uns bemühen, auch anderswo den Zugang zu Vakzinen zu verbessern.“
Man kann davon ausgehen, dass Tais Äußerungen mit Präsident Joe Biden abgesprochen sind. Die amerikanische Regierung erfüllt damit die Forderung vieler Entwicklungs- und Schwellenländer. Vor allem Indien und Südafrika dringen seit längerer Zeit auf eine Aussetzung des Patentschutzes. Auch zahlreiche NGOs, Nobelpreisträger und US-Politiker der Demokraten sprechen sich dafür aus. Nur wenn die Rezepte auf der ganzen Welt bekannt seien, meinen sie, könne die Impfstoffproduktion beschleunigt werden.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagte am Donnerstag, die EU sei grundsätzlich bereit für Gespräche über Patent-Aussetzungen bei Corona-Impfstoffen.
Industrienationen, in denen die großen Pharmakonzerne ansässig sind, lehnten eine Aussetzung des Patentschutzes bisher ab. Zu ihnen zählten neben Amerika u.a. Großbritannien, Japan, die Schweiz, Brasilien und Norwegen. Auch die US-Republikaner sind gegen das Vorhaben. Unternehmen wie Pfizer und Moderna, schrieben ein Dutzend Abgeordnete in einem Brief an Tai, drohe ein „enormer wirtschaftlicher Schaden“.
Die Firmen fürchten, dass die Gewinne einbrechen, wenn ihre Impfstoffe überall auf der Welt hergestellt werden dürfen. Zudem warnen die Manager, dass ein solcher Schritt zukünftige Innovationen bremse. Wer wolle schon Hunderte Millionen Dollar in die Entwicklung neuer Vakzine investieren, sagen sie, wenn die Patente am Ende wertlos seien?
Eine Aufhebung des Patentschutzes würde die Grundgesetze der globalen Pharmaindustrie außer Kraft setzen. Der Branche könnten Milliarden entgehen. Deshalb fielen die Aktien der Konzerne am Mittwoch deutlich. Moderna verzeichnete ein Minus von mehr als 9,5 Prozent – der größte Einbruch innerhalb eines Tages seit zwei Monaten. Der Kurs von CureVac sank um mehr als acht Prozent, jener des Unternehmens Pfizer, das sein Vakzin gemeinsam mit Biontech entwickelt hat, um mehr als 2,5 Prozent.
WHO spricht von „historischer Entscheidung“
Amerikas neue Position macht eine Aussetzung des Patentschutzes wahrscheinlicher. Die Handelsbeauftragte Tai sprach von einer „moralischen Verpflichtung“. Aber aus purem Altruismus dürfte sie nicht handeln. Die US-Regierung weiß, dass eine vollständige Erholung der Wirtschaft wohl nur dann möglich ist, wenn das Coronavirus auch in anderen Teilen der Erde eingedämmt wird. Bis der Patentschutz tatsächlich fällt, könnte aber noch Zeit vergehen. Der Beschluss erfordert einen Konsens – alle 164 Mitgliedstaaten der WTO müssten also einverstanden sein.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat die Aussetzung von Patenten für die Impfstoffe als „historische Entscheidung“ begrüßt. Dies sei ein wichtiger Meilenstein im Kampf gegen die Pandemie, erklärte WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus am Mittwoch über Twitter.
Die Entscheidung sei ein eindrucksvolles Beispiel der amerikanischen Führungsrolle in Fragen der globalen Gesundheit, schrieb er. Damit könne die globale Ungleichheit bei den Impfstoffen bekämpft werden, um gemeinsam daran zu arbeiten, „diese Pandemie zu beenden“.