Bernd Stegemann möchte kein Hase mehr sein. Genauer: der Hase aus dem Märchen vom Hasen und vom Igel, die in der Ackerfurche um die Wette laufen. Das geht für den Hasen bekanntlich tödlich aus. Der Igel hat seine Frau am anderen Ende der Furche postiert und ist auf diese Weise immer schon da. Mit dieser Geschichte, die im Prolog zu dem Buch Die Moralfalle referiert wird, sieht Stegemann die Form heutiger Debatten gut beschrieben. "Indem die eine Seite ihre Position verdoppelt, kann die andere den Wettlauf nicht mehr gewinnen", heißt es da.

Bernd Stegemann ist Dramaturg am Berliner Ensemble, Professor an der Berliner Schauspielschule Ernst Busch und seit Kurzem über die Theaterszene hinaus bekannt: Er fungiert als "Stratege", wie es im Klappentext heißt, von Sahra Wagenknechts Sammlungsbewegung Aufstehen. Und selbst wenn der Autor im Nachwort erklärt, die Idee zum Buchprojekt sei älter gewesen als die Konkretion seines politischen Engagements – sie hat mit diesem etwas zu tun.  Die Moralfalle kreist wortreich um die linke Kritik an Aufstehen. Diese lautete: Die Fokussierung auf die soziale Frage, auf Klassismus und Unterprivilegierung, werde mit Rassismus und Nationalismus ermöglicht. Aufstehen argumentiert – wie Stegemann etwa in diesem Deutschlandfunk-Kultur-Interview –, dass "grüne" Themen wie "Anerkennungspolitik" und die "moralische" Diskussion von Migration die soziale Frage überdeckten.

Ein Programm lässt sich das Buch aber kaum nennen. Stegemann entwickelt keinen politischen Entwurf eigener Kraft, sondern meint herum – er springt noch einmal über jedes Stöckchen, das aktueller gesellschaftlicher Smalltalk so hinhält: #MeToo, Talkshows, Identitätspolitik, zu allem hat Die Moralfalle etwas zu sagen, auch wenn das Meiste häufig schon gesagt ist.

Über "Nation" wird nicht nachgedacht

Sichtbar wird so eine gekränkte Seele, die sich an offenbar tief empfundener Zurücksetzung im medialen Diskurs abarbeitet. Die Personalisierung ist an dieser Stelle durchaus naheliegend, weil Stegemann seinen Brass einerseits privatempirisch begründet: "Da vor allem das Milieu der Kulturschaffenden, zu dem ich als Dramaturg ja gehöre, in den letzten Jahren eine rasante Zunahme an Moralpredigern und Moralisten zu verzeichnen hat, halte ich eine Kritik dieser Entwicklung für dringend notwendig." Oder: "Vielleicht hängt es an der verbreiteten Doppelmoral des Milieus, in dem ich lebe und arbeite, vielleicht daran, dass ich mit dem kühlen Blick der Systemtheorie von Niklas Luhmann eher skeptisch auf den hitzigen Streit der Moral schaue – ich sehe in der Selbstgewissheit, sich zu den Guten zu zählen, vor allem eine bequeme Lüge."

Leider nur reicht "der kühle Blick der Systemtheorie" nicht mal bis zum Spiegel an der Wand. Sonst würde Stegemann erkennen, wie asymmetrisch er auf hitzige Streits schaut. Die anderen unterstellen einseitig, er analysiere grundsätzlich. Was er in Bezug auf den Titel seiner Schrift aber schon mal nicht tut: Die Schriften Immanuel Kants, die für das Nachdenken über Moral nicht ganz unerheblich sein dürften, werden in einem Absatz abgefrühstückt. Und es ist fast ein wenig rührend, wie hilflos sich Stegemann dem kategorischen Imperativ des Philosophen ("Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde") am Ende entzieht ("widerlegen" kann man dazu schlecht sagen), damit er seine Ablehnung von "Moral" weiter durchboxen kann: "Warum das immer so sein soll und wie das im Einzelfall durchzusetzen ist, ist hingegen rätselhaft." Könnte man so einen lapidaren Satz nicht hinter jedes tatsächliche Gesetz schreiben?

Begriffliche Unschärfe zeichnet Die Moralfalle durchgehend aus. Über "Stolz" und "Nation" wird nicht weiter reflektiert, "Moral" nicht von "Moralismus" geschieden, "Populismus" gröbstens zum "Wir gegen die" verallgemeinert, damit sich mit diesem Wort am Ende alles und nichts mehr meinen lässt. Die Liste ließe sich fortsetzen.