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NEON-Reihe #sexbewusst Was wissen wir eigentlich über weibliche Lust? Spoiler: nicht besonders viel

Wie schaut die Wissenschaft heute auf die weibliche Sexualität? Welche Erfahrungen von Frauen werden dabei abgebildet - und welche nicht? 
Wie schaut die Wissenschaft heute auf die weibliche Sexualität? Welche Erfahrungen von Frauen werden dabei abgebildet - und welche nicht? 
Erregung, Plateau, Höhepunkt, Erholung: Bildet dieses Standardmodell von Erregung gut ab, wie Frauen Sex erleben? Eine junge Psychologin widmet sich dieser Frage in ihrer Forschung und überprüft auch andere gängige Modelle. Ein Gespräch über die blinden Flecken in der Forschung.

Anna-Lisa Friedetzky hat Klinische Psychologie in Hamburg studiert. Jetzt will die 27-jährige Psychologin in ihrer Dissertation ein neues Modell für die weibliche Sexualität entwickeln. Es soll die bestehenden Modelle ergänzen, denn die blenden laut der Forscherin viele Faktoren aus. 

NEON: Warum hast du dich auf die Suche nach den blinden Flecken der gängigen Modelle von weiblicher Sexualität gemacht?

Anna-Lisa Friedetzky: Die Statistiken haben mich stutzig gemacht: Sie zeigen, dass Frauen innerhalb ihres Lebenszeitraums mit einer 43-prozentigen Wahrscheinlichkeit eine sexuelle Funktionsstörung entwickeln. Ich habe mich gefragt, woran das liegt. Liegt es an der Gesellschaft? Oder liegt es eventuell daran, dass die wissenschaftlichen Konzepte inadäquat sind? Und wenn das so ist, wie kann man das ändern?

Du hast in deiner Masterarbeit nach Experteninterviews einige Bereiche definiert, die in der Wissenschaft zu kurz kommen – welche sind das?

Beinahe alles, was neben den Orgasmus stattfindet, kommt zu kurz. Insgesamt habe ich zehn Felder definiert. Ein Beispiel ist der Bereich Genuss- und Lustorientierung ohne Ziel. Sex als eine Wahrnehmung des Körpers, in dem ein Lusterlebnis stattfindet, ist erst wenig erforscht.

Ein weiterer Punkt: In gängigen Modellen wird immer noch das alte Masters/Johnson-Konzept von Erregung verwendet. Das heißt: Die erste Phase ist die Erregung, sie steigert sich bis zur Plateauphase, dann kommt der Höhepunkt und dann geht es in die Rückbildung. Es wird oft als eine Kurve verbildlicht.

In den Interviews, die ich mit Experten aus Wissenschaft, der Sexualtherapie und dem Tantra- und Sexcoaching geführt habe, zeigte sich,  dass dieses Modell nicht abbildet wie alle Frauen Sexualität erleben. Viele Frauen erleben Erregung nicht als Kurve, sondern eher in Wellen kommend. Ein Beispiel dafür ist die Tatsache, dass Frauen multiple Orgasmen empfinden können.

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Und vielleicht noch ein letzter Punkt: Sexualität wird oft als Teilbereich betrachtet, aber selten in Zusammenhang mit anderen Aspekten gebracht. Meine Forschung gibt Hinweise darauf, dass das Ausmaß der Verbundenheit einer Frau zu ihrer eigenen Sexualität, Auswirkung auf ihre allgemeine Lebensqualität hat. In nicht-westlichen Modellen wie der Traditionellen Chinesischen Medizin werden Orgasmen, die in emotionaler Verbundenheit entstehen,  zum Beispiel als Heilmittel verstanden – in der westlichen Forschung gibt es diese Perspektive eher selten.

Woran liegt es deiner Meinung nach, dass weibliche Sexualität in der Forschung so unvollständig betrachtet wird?

Da kann ich nur auf meine persönliche Meinung zurückgreifen, erforscht habe ich das nicht. Ich denke, dass es mit unserer patriarchal geprägten Geschichte zu tun hat. Weibliche Sexualität wurde lange kontrolliert, es gab viele Tabus darum und eine große Angst davor. Das hat sich schon verändert.

Trotzdem ist der Zeitgeist weiter auf ein Funktionieren getrimmt. Bildung über Sex läuft neben dem Aufklärungsunterricht in der Schule oder durch die Eltern durch den Austausch unter Jugendlichen und über Pornografie ab. In der Schule gibt es häufiger Aufklärung über biologische Aspekte, weniger über emotionale Bereiche von Sexualität. Selbstbefriedigung war lange ein Tabu und auch heute sprechen Frauen nur wenig darüber. Wir lernen viel über Sex, aber nicht darüber wie wir es in unserem Körper wahrnehmen. Es gibt viele Informationen, und wenig Ermutigung für Selbsterforschung: Es gibt wenig Räume, in denen klar wird, Sex braucht Zeit und es braucht auch eine gewisse Achtsamkeit.

Gibt es etwas, dass dich im Laufe deiner Forschung überrascht hat?

Mich hat es fasziniert, wie weitreichend Sexualität ist. Wie es in alle unsere Lebensbereiche hineinwirkt. Das Puzzle, mit dem ich anfing, wurde immer größer.

Anna-Lisa Friedetzky hat für ihre Masterarbeit an der MSH Medical School Hamburg im Rahmen der Forschung von Katharina Weitkamp mit elf Experten aus Wissenschaft, Sexualtherapie und Coaching gesprochen. In ihrer Dissertation will die Psychologin ihre Forschungsergebnisse vertiefen, und sucht dafür noch Finanzierung.

Was ist deiner Meinung nach notwendig, damit Sexualität in Zukunft vollständiger in der Wissenschaft abgebildet werden kann?

Ein Umdenken ist wichtig: Ich finde es wichtig, dass wir Sexualität ganzheitlich verstehen lernen. Deshalb brauchen wir mehr interdisziplinäre Projekte, die das erforschen. Die Verbindung von Emotionalität und Sex sollte stärker erforscht werden. Ein Blick auf Therapiemaßnahmen, die den Körper mit einbeziehen, ist wichtig. Eine Tantra-Massage kann zum Beispiel ein hilfreicher Baustein für eine Therapie sein. Natürlich braucht es dafür auch ethische Kontrollinstanzen. Und wir brauchen mehr Forschung darüber. Tantra erhält oft den Esoterik-Stempel. Ich finde es sinnvoller, erst einmal genauer zu erforschen, was dabei passiert, bevor man es verurteilt. Dass unter das Prostitutionsschutzgesetz auch Tantra-Masseure fallen, empfinde ich als Rückschritt für unsere Gesellschaft. Und als letzter Punkt: Das menschliche Bedürfnis nach Sinn finde ich auch für wissenschaftliche Fragestellungen zur Sexualität sehr wichtig.

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Blick auf Vulva und Vagina: Warum es sich lohnt, die Lustzonen im Becken zu kennen

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Susanna-Sitari Rescio
© Credit: Olivia Vogée

Sexualberaterin Susanna-Sitari Rescio

Seit fast zwanzig Jahren arbeitet die gebürtige Italienerin als Sexualberaterin, seit zehn Jahren als Sexualtherapeutin in Hamburg. Sie ist Autorin des Buches "Sex und Achtsamkeit", bietet Beratung sowie Fortbildungen und Supervision in der Sexologie und Sexualberatung an. Außerdem leitet sie körperorientierte Selbsterfahrungsgruppen. Hier geht es zum Podcast. 

Podcast: Lust durch Atem und Muskelanspannung

Gedanken, Atem und Bewegungen spielen eine wichtige Rolle für die Lust. Sie können für manche Frauen selbst Berührungen unnötig machen. "Je durchlässiger wir für den Atem werden, desto intensiver kann sich unsere Lust beim Sex entfalten", sagt Sexualtherapeutin Susanna-Sitari Rescio in der neuen Folge des #sexbewusst-Podcasts. Ihr wollt selbst ausprobieren, was durch den Atem möglich ist?

Susanna zeigt euch in etwa 20 Minuten, wie ihr durch Atmen und das Bewegen eures Körpers Lust und Erregung in euch aufbauen könnt. Die Sexualberaterin führt euch zunächst zu eurem Atem. Dann beschreibt sie, wie ihr ihn und eure Lust mit Beckenbewegungen erforschen könnt. Viel Spaß beim Ausprobieren!

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