Es fühlt sich gerade an, als wäre Twitter längst tot, aber noch nicht beerdigt. Seit Elon Musk die Plattform vor einem Jahr gekauft hat, baut das soziale Medium der Wahl für Medien- und Politikmenschen (das inzwischen X heißt) zunehmend ab. Musk hat die Moderation der Inhalte dramatisch reduziert: Rassismus, Queerfeindlichkeit und Antisemitismus nehmen deswegen zu, und seit dem Überfall der Hamas auf Israel wird die Seite mit Fake-Videos, manipulierten Fotos und Deepfakes überflutet. Viele Nutzer fühlen sich auf Twitter/X nicht mehr zu Hause. Forscher und Klimaaktivisten haben es bereits in Scharen verlassen. Doch nicht nur scheint da eine Alternative am Horizont, sie ist der Horizont selbst: das dezentrale Netzwerk Bluesky, zu Deutsch: blauer Himmel. Viele versprechen sich einen Ersatz für Twitter/X. Aber braucht es den überhaupt?

Besonders in linken und linksliberalen Kreisen hieß es in den vergangenen Tagen auf X häufig: "Ihr findet mich drüben" – auf Bluesky. In der FAZ kommentierte man bald die "linke Blase" dort und die Welt beklagte den fehlenden Willen der Nutzer, "sich dem breiten Diskurs zu öffnen". Hier spiegelt sich die inzwischen über zehn Jahre alte Befürchtung, im digitalen Raum könnten sich Echokammern oder Filterblasen bilden, in denen Leute sich ideologisch abschotten, Austausch verweigern und so die Spaltung der Gesellschaft befördern. Doch diese Angst ist überzogen. Womöglich könnte eine Fragmentierung des Internets sogar zu einer gesünderen Debattenkultur führen.

Die Geschichte des sozialen Internets lässt sich als Geschichte immer intensiverer Zentralisierung erzählen. Sie begann mit einer stetig steigenden Anzahl an getrennten Foren, in denen man Interessen oder Hobbys diskutieren konnte. Dann kam die noch immer dezentrale, doch durch Links teilvernetzte Blogosphäre aus Blogs und persönlichen Websites. Und letztendlich Facebook, (das damalige) Twitter, Instagram und Co, die ein einziges Profil für jeden Nutzer und einen einzigen Feed anboten, auf einer einzigen Plattform. Musste man zuvor Inhalte suchen, fanden die Inhalte einen nun von allein. Andersherum fanden auch die eigenen Inhalte wie durch algorithmische Zauberhand ein Publikum, was jedoch ein neues Problem schuf: einen Kontrollverlust.

Üblicherweise kommuniziert man in Kontexten, die durch unser soziales Umfeld oder den physischen Raum, in dem wir uns aufhalten, begrenzt sind. Elektronische Medien ändern das. Sie reißen diese Grenzen ein, und plötzlich sendet man an ein potenziell unendlich großes Publikum. Das Phänomen nennt sich context collapse: Verschiedenste soziale Situationen und ihre spezifischen, womöglich inkompatiblen Regeln rutschen ineinander. Wenn sich Kontexte vermischen, kann das schnell mal kompliziert werden, man kennt das von Geburtstagsfeiern, zu denen man unterschiedliche Freundesgruppen einlädt. Der Kollege kennt diese Referenz nicht, der Schulfreund war bei jener Anekdote nicht dabei, gegenüber dem Ex-Partner sollte man dieses und bei der Nachbarin jenes Thema vermeiden. Es kommt rasch zu Un- oder Missverständnissen, in jedem Fall benötigt man viel Fingerspitzengefühl.

Doch die sozialen Fallstricke der eigenen Party sind nichts im Vergleich zur explosiven Reichweite in den sozialen Medien. Zunächst kommuniziert man meistens in den intimeren Kontext einer Gruppe von Freunden oder Followern hinein. Erst wenn der Beitrag in dieser Gruppe als gut empfunden, gelikt und geteilt wurde, findet er seinen Weg zu flüchtigen Bekannten oder gar Wildfremden. Die Pointe, das Argument oder die Einsicht, die dem Beitrag dabei ermöglicht hat, unter Freunden und Followern erfolgreich zu sein, benötigt dabei meist Kontext, der mit zunehmender Reichweite verloren geht. Empfänger jenseits des eigentlichen Zielpublikums sehen den Beitrag und verstehen ihn häufig falsch oder gar nicht.