Noch nie waren so viele Menschen pflegebedürftig wie heute: 3,5 Millionen Menschen sind es in Deutschland, zwei Drittel von ihnen werden zu Hause versorgt. Warum aber reden Kolleginnen und Freunde über den Kitaplatzmangel, nicht aber darüber, wie schwer es ist, ein gutes Pflegeheim zu finden? Was hindert Eltern und ihre erwachsenen Kinder daran, ehrlich über ihre Erwartungen zu sprechen? Im Schwerpunkt "Sprechen wir über Pflege" widmen wir uns auf ZEIT ONLINE diesen und weiteren Fragen: Wie es sich anfühlt, über die Zukunft der Mutter zu entscheiden. Was die Belastung der Pflege mit einer Beziehung macht. Und was körperliche Nähe bedeutet, wenn man selbst gepflegt wird.

Manchmal rutscht Maria-Cristina Hallwachs beim Sex der Blasenkatheter raus. "Das kann jede Stimmung killen", sagt sie und grinst, "aber dann ist es nun mal so." Hallwachs kann darüber lachen. Und sie braucht einen Partner, der das auch kann. Mit Holger war das so.

Vor dem Sommer 1993 war das anders. Sie war 18, hatte das Abitur gerade hinter und das Erwachsenenleben vor sich. Tanzte zu Musik von Depeche Mode und war verliebt in ihren Freund Fabrice. Dann sprang Hallwachs in Griechenland in einen Hotelpool und brach sich die Halswirbelsäule. Ein Hubschrauber brachte sie ins Querschnittzentrum Tübingen. Tagelang ging es ums Überleben. Nach dem Aufwachen musste sie sich entscheiden. "Sie werden Ihr Leben im Liegen verbringen", sagten die Ärzte, erinnert sich Hallwachs. "Wollen Sie so weiterleben?"

Fast 26 Jahre ist das her. Heute lebt Hallwachs in Stuttgart, in einer barrierefreien Erdgeschosswohnung im Haus ihrer Eltern. Im Liegen muss sie ihr Leben nicht verbringen. Sie nutzt einen elektrischen Rollstuhl, den sie mit ihrem Kinn per Joystick steuert, und 24 Stunden am Tag ist eine Pflegekraft bei ihr. Sie ist schon gemeinsam mit einem Pfleger zum Romanistikstudium nach Tübingen gependelt, reiste nach Österreich, Frankreich und Spanien, geht shoppen und ins Theater. Ihren Computer bedient sie mit einer Mundmaus. Von ihrem damaligen Freund Fabrice hat sie sich noch im Krankenhaus getrennt. Zu groß die Überforderung, zu schmerzhaft das Gefühl, er bleibe aus Mitleid bei ihr. Wenn man auf ihrem Sofa sitzt, vergisst man leicht, dass die großzügige Gastgeberin nie allein ist, nie allein sein darf.

Im Nebenraum sitzt eine Pflegerin, in einer halben Stunde wird sie Hallwachs den Speichel absaugen und ihr ein Glas Wasser mit Strohhalm hinstellen. Ein Team aus insgesamt zehn Pflegekräften betreut sie in zwei Schichten, 7 bis 19 Uhr, 19 bis 7 Uhr. Die Krankenkasse kommt für die Kosten der Grundpflege auf; Hallwachs zahlt etwas zu den Gehältern des privaten Pflegedienstes dazu, wo sie sich die Pflegekräfte aussuchen kann. Eine Pflegerin wäscht und schminkt sie, kleidet sie an und reicht ihr das Essen. Ohne Lätzchen, darauf besteht Hallwachs. Dann geht der Pullover eben in die Wäsche.   

Mit Pflegerin Timi ist sie befreundet. Sie lackiert Hallwachs auch die Fingernägel, am liebsten in Rot. Wenn Timi einen schlechten Tag hat, muntert Hallwachs sie auf. Sie waren gemeinsam in Paris und in der Schweiz, "Maria-Cristina und ich sind ständig unterwegs".

Ob sie wieder Freude am Sex haben könnte, war lange kein Thema

Mehrmals im Jahr erzählt Hallwachs in Vorträgen, wie sie sich ihr Leben mit Intensivpflege eingerichtet hat. An einer Heilerziehungsschule, vor angehenden Medizinern und an Schulen. Und sie berät ehrenamtlich Menschen, die wie sie beatmet werden. Hallwachs beschäftigt sich permanent mit ihrer Behinderung, vorbei führt daran ohnehin kein Weg: Tagsüber trägt sie einen Zwerchfellstimulator. Alle vier Sekunden sendet der einen Impuls, das Zwerchfell zieht sich zusammen und saugt Luft in ihre Lunge, manchmal mitten im Satz. Nachts versorgt eine Beatmungsmaschine sie, deren Motor vor dem Schlafzimmer steht, weil er so laut ist.

Ob sie als Querschnittgelähmte Freude am Sex haben könnte, war für sie nach dem Unfall kein Thema. Sie war dabei, ihr Leben neu zu sortieren. Dann lernte sie den Mann kennen, der in diesem Text Holger heißt.