Wo ist sie denn, die Krise? Wer sich nur das Wirtschaftswachstum anschaut, entdeckt sie nicht sofort. Allein im vergangenen Jahr legte die türkische Wirtschaft um mehr als sieben Prozent zu – Wachstumsraten, von denen die meisten westlichen Industrieländer nur träumen können.

Selbst im Krisenjahr 2016, als Präsident Recep Tayyip Erdoğan fast aus dem Amt geputscht wurde, lag das Wachstum bei immerhin noch mehr als drei Prozent. Für das laufende Jahr rechnet die Industrieländerorganisation OECD mit einem Plus von mehr als fünf Prozent. Doch das Wachstum ist teuer erkauft. "Es ist ein binnenkonsumgetriebenes Wachstum, das vor allem durch Kredite finanziert wurde", sagt Erdal Yalcin, Professor für Volkswirtschaft an der Universität Konstanz.

Staatliche Ausgabenprogramme und subventionierte Kredite vor allem für die Bauwirtschaft haben die Wirtschaft angetrieben. Ein Megaflughafen in Istanbul, neue Stadtviertel, Brücken, Moscheen: Gerade Istanbul erlebte in den vergangenen Jahren einen Boom. Die florierende Ökonomie ist Erdoğans politische Versicherung. Seit seinem Amtsantritt hat sich die Wirtschaftsleistung pro Kopf fast verdreifacht.

Aber eine boomende Wirtschaft hat ihren Preis: Wenn die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen steigt und diese knapp sind, dann steigen die Preise – das nennt man Inflation. Genau das passiert seit Monaten in der Türkei. Eigentlich hat sich die türkische Zentralbank eine Preissteigerung von fünf Prozent im Jahr zum Ziel gesetzt. Doch tatsächlich liegt sie inzwischen bei mehr als 15 Prozent, dem höchsten Wert seit 2004.

Zugleich stehen Schwellenländer wie die Türkei unter besonderer Beobachtung von internationalen Investoren – vor allem wenn sich Indikatoren wie die Inflation besonders stark verändern. Für ihre Investitionsentscheidungen ist auch das politische Umfeld entscheidend. Wenn sie das Vertrauen in eine Währung verlieren und sie im großen Stil verkaufen, büßt diese an Wert ein. Genau das ist in den vergangenen Monaten passiert. Seit Jahresbeginn ist die türkische Lira um rund 45 Prozent im Wert gefallen. Ende Juli brach der Kurs kräftig ein, als die türkische Zentralbank nicht, wie allgemein erwartet, die Zinsen weiter anhob.

Klassischerweise sind steigende Zinsen ein Mittel, um die Inflation zu bremsen. Schon jetzt steht der Leitzins bei rekordverdächtigen 17,75 Prozent, um die seit Monaten steigende Inflation unter Kontrolle zu bringen. Die türkische Zentralbank hat in den vergangenen drei Jahren und zuletzt im Mai nach langem Zögern die Zinsen um drei Prozentpunkte erhöht, um die Inflation und den Kursverfall der Lira zu bremsen. "Diese Interventionen kamen aber immer zu spät und zu zaghaft, so dass die Inflation weiter stieg und die Strukturprobleme in der türkischen Wirtschaft weiterhin bestehen bleiben", sagt Yalcin.

Anleger sind verunsichert, weil sie sich um die politische Stabilität des Landes sorgen – ein typisches Schwellenländerphänomen. Sie bezweifeln insbesondere die Unabhängigkeit der Zentralbank. Präsident Erdoğan hat immer wieder gegen höhere Zinsen und die angebliche internationale Zinslobby gewettert. Kurz nach seiner Wiederwahl zum Präsidenten hat er sich etwa das exklusive Recht gesichert, den Präsidenten der Zentralbank persönlich zu ernennen.