An diesem Sonntag findet im Saarland die erste Landtagswahl in diesem Jahr statt. Nach 23 Jahren CDU-Regierung liegt die SPD in Umfragen vorn. Heiko Maas ist Saarländer, in seiner Heimat scheiterte er dreimal daran, Ministerpräsident zu werden. 2013 wechselte er nach Berlin, wurde Justizminister, 2018 Außenminister. Seit dem Ende der großen Koalition ist der 55-Jährige wieder Bundestagsabgeordneter für seinen Heimatkreis Saarlouis an der deutsch-französischen Grenze. Das Interview fand in seinem kleinen Bundestagsbüro statt – unter einer Bedingung: Zur außenpolitischen Lage will Maas sich nicht äußern.

ZEIT ONLINE: Herr Maas, 2017 waren Sie als Außenminister beim EU-Gipfel. Im Vorbeigehen an den Fernsehkameras riefen Sie scherzhaft die Unabhängigkeit des Saarlandes aus. Gab es internationale Reaktionen?

Heiko Maas: Nun, im Auswärtigen Amt sagte man mir, dass ich so etwas in Zukunft lieber lassen soll. Meine Amtskollegen haben den Scherz richtig verstanden, da hat es eher Interesse geweckt: Ich habe als Außenminister immer gern von meiner Heimat erzählt. Von der bewegten Geschichte des Saarlandes, das mal zu Frankreich gehörte, mal zu Deutschland und dann tatsächlich für ein paar Jahre autonom war. Meine Großmutter hat ihr ganzes Leben im gleichen Ort, in der gleichen Straße, im gleichen Haus gelebt, aber sie hatte fünf verschiedene Pässe: deutsch, französisch, saarländisch, mal so, mal so, ein permanentes Hin und Her. So etwas prägt die Menschen und ein Land.

ZEIT ONLINE: Welches Heimatgefühl haben Sie nur im Saarland?

Maas: Es gibt keinen Ort auf der Welt, an dem ich mich so gut auskenne wie im Saarland. Hier bräuchte ich nie ein Navigationsgerät. Was nicht nur mit der überschaubaren Größe zu tun hat, sondern auch damit, dass ich die meiste Zeit meines politischen Lebens dort aktiv war. Es gibt kein Stadtfest, auf dem ich in den 19 Jahren als Landtagsabgeordneter nicht gewesen bin. Das schafft Vertrauen und Sicherheit, man weiß immer, wo man ist, wo man hinmuss und wie man wieder wegkommt. Dieses Gefühl habe ich nur im Saarland.

ZEIT ONLINE: Über das kleinste Bundesland der Republik und seine Bewohner existieren viele Mythen und Scherze. Wie würden Sie Ihre Landsleute charakterisieren?

Das Saarland hat die Grundlage für das Wunder von Bern gelegt.

Maas: Die Saarländer sind sehr heimatverbunden und gesellig. Das Saarland ist klein, jeder kennt hier jeden. Man ist gut vernetzt: Das Saarland hat die höchste Vereinsdichte, die höchste Mitgliederdichte der Parteien und Gewerkschaften. Großgeschrieben wird auch die Gastfreundlichkeit. Ich kenne keine Region in Deutschland, in der es Besuchern und Zugezogenen so einfach gemacht wird, sich zu öffnen. Die Saarländer sprechen gerne miteinander und mit jedem Fremden, sie sind neugierig und herzlich, es wird immer schnell persönlich.

ZEIT ONLINE: Trotzdem ist es ein weit verbreitetes saarländisches Gefühl, nicht richtig dazuzugehören.

Maas: Das Saarland kam erst 1957 zur Bundesrepublik dazu. So etwas prägt die Menschen, so etwas prägt ein Land. Deshalb haben die Menschen sich nach innen orientiert, sind sich oft selbst genug. Vorher war das Saarland erst von Frankreich besetzt und dann mehrere Jahre lang teilautonom. Wir waren als eigenes Land Teilnehmer bei den Olympischen Sommerspielen 1952 in Helsinki. Und das Saarland hatte sogar eine eigene Fußballnationalmannschaft, die in der Qualifikationsrunde für die Weltmeisterschaft 1954 in der Schweiz gegen die deutsche Nationalmannschaft angetreten ist.

ZEIT ONLINE: Und verloren hat.

Maas: Na, na! Wir haben Deutschland gewinnen lassen, damit die deutsche Nationalmannschaft sich für die WM qualifizieren und dann den Titel nach Hause bringen konnte. Das Saarland hat sozusagen die Grundlage für das Wunder von Bern gelegt. Das ist eben alles besonders und anders.

ZEIT ONLINE: Aber auch fast 70 Jahre her.

Maas: Klar, das wächst langsam raus. Aber es hängt eben alles mit allem zusammen: Nach dem Zweiten Weltkrieg haben Deutschland und Frankreich wegen der Ressourcen Kohle und Stahl um das Saarland gerungen. Davon ist wenig übrig geblieben, der Strukturwandel war hart für das Saarland. Das mag dazu geführt haben, dass manche Saarländer sich denken: Als es lukrativ war, uns zu "besitzen", da habt ihr euch um uns gestritten und danach habt ihr uns mit den Problemen, für die wir nichts konnten, alleingelassen. Weil das Saarland nach 1945 noch nicht zur Bundesrepublik gehörte, sind viele Konzernzentralen und Behörden eben auch anderswo angesiedelt worden. Das heißt, wir hatten an der Saar immer eine schwierige wirtschaftliche Struktur und waren lange Haushaltsnotlageland. Wobei diese Erzählung des Benachteiligtseins eben auch politische Strategie über viele Jahrzehnte war. Man musste sich ja erst als Notlageregion darstellen, um vom Bund besondere Hilfen zu bekommen. Das war gut und richtig, aber jetzt müssen wir diese Erzählung mal abstreifen.

In der saarländischen Stahlproduktion wurde bisher russische Kohle verfeuert.

ZEIT ONLINE: Was sollte an deren Stelle treten?

Maas: Das Saarland hat den Strukturwandel in den vergangenen Jahren bewältigt und seine Wirtschaft diversifiziert: Die Automobil- und Zulieferindustrie ist ausgebaut und zukunftsfähig geworden, Saarbrücken ist inzwischen ein Hightechstandort für IT, künstliche Intelligenz und Cybersicherheit. Das Land hat viel zu bieten, wir können aber nicht so gut angeben wie andere.

ZEIT ONLINE: Vor der Wahl am Sonntag ist die wirtschaftliche Lage laut Umfragen trotzdem die wichtigste Sorge der Menschen. In Ihrem Wahlkreis Saarlouis musste ausgerechnet der angeschlagene Autobauer Ford erneut Kurzarbeit anmelden – bedingt durch Lieferengpässe wegen des Ukraine-Kriegs. Könnte der saarländische Arbeitsmarkt durch den Krieg besonders getroffen werden?

Maas: Ford war schon von den Halbleiterlieferengpässen im Rahmen der Corona-Pandemie betroffen. Insgesamt leiden wir nicht mehr als andere unter der jetzigen Situation.

ZEIT ONLINE: Viele Industrien im Saarland sind sehr energieintensiv, zum Beispiel die Stahlproduktion in Dillingen. Wie könnte sich eine mögliche Energiekrise wegen des Boykotts von russischen Energielieferungen auf das Saarland auswirken?

Maas: Dort wurde bisher tatsächlich russische Kohle verfeuert. Die muss man jetzt woanders besorgen, das wird teuer. Aber diese Wettbewerbsnachteile haben andere auch. Die größte Herausforderung der Stahlindustrie ist und bleibt aber die Umstellung auf die klimaneutrale Stahlproduktion. Die Unsicherheiten bei der Energieversorgung durch den Ukraine-Krieg machen das alles noch schwieriger, als es ohnehin schon ist.