Franka Lu ist eine chinesische Journalistin und Unternehmerin. Sie arbeitet in China und Deutschland. In dieser ZEIT-ONLINE-Serie berichtet sie kritisch über Leben, Kultur und Alltag in China. Um ihr berufliches und privates Umfeld zu schützen, schreibt sie unter einem Pseudonym.

Wer im Westen lebt und nach China reist, muss sich auf scharfe geopolitische Diskussionen gefasst machen. Darauf, auch im privaten Rahmen von Chinesinnen oder Chinesen unvermittelt gefragt zu werden: "Wie stehen Sie zum Handelskonflikt der USA gegen China?" Oft ist das keine echte Frage, sondern die höfliche Einleitung zu einer Tirade über den Westen und darüber, wie ungerecht und unglaubwürdig der sich China gegenüber verhält.

Der von der Trump-Regierung eröffnete Handelskonflikt gegen China ist vielleicht der umfassendste und komplizierteste Konflikt seit Ende des Kalten Krieges. In unterschiedlichem Ausmaß betrifft er alle großen Volkswirtschaften der Welt unmittelbar. Er berührt die Felder von technologischer Zusammenarbeit, Handel und Arbeitsmarkt, Sicherheit und Spionage, Wissenschaft und Forschung, des Zugangs zum chinesischen Binnenmarkt. Das Ausmaß seiner Auswirkungen lässt sich noch immer nicht ganz ermessen. Wir wissen, dass der Ausgang dieses Konflikts über die Machtstrukturen in der nächsten Phase des 21. Jahrhunderts entscheiden wird, aber sein Ablauf lässt sich nicht vorhersagen und nur wenige haben Einfluss darauf. In China ist in Politik und Wirtschaft eine gewisse Grundangst spürbar. Daher auch die große Gesprächsbereitschaft mit Besuchern aus dem Westen.

Vor 20 Jahren hat man diese Entwicklung im Westen nicht vorhergesehen. Eine zweiteilige Folge des Podcasts The Daily der New York Times erinnerte erst im vergangenen Dezember daran, sie trug den Titel What the West Got Wrong About ChinaWo der Westen in Sachen China falschlag. Zu hören war ein Rückblick auf die vergangenen 40 Jahre der Beziehungen zu China und eine Analyse folgenschwerer Falschannahmen des Westens zu unterschiedlichen Zeiten: dass wirtschaftlicher Wohlstand in China automatisch zu Demokratisierung führen würde; dass sich das Internet nicht zähmen lassen und politische Freiheiten erzwingen würde; dass die USA Einfluss auf China ausüben würden und nicht umgekehrt.

Eine nach der anderen sind diese Annahmen von der Wirklichkeit überholt worden, die erste in den Neunzigerjahren nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung durch das Tian’anmen-Massaker und der darauffolgenden stillschweigenden Übereinkunft der Staatsführung mit dem Volk: Sie verheißt wirtschaftlichen Wohlstand bei Aufrechterhaltung des autoritären Regimes. Bis heute haben sich beide Seiten an diesen Deal gehalten.

"Na, viel Glück"

"Wir wissen, wie stark das Internet Amerika verändert hat, und dabei waren wir schon eine offene Gesellschaft. Man stelle sich vor, wie stark es China verändern kann … China versucht, das Internet kleinzukriegen, keine Frage. Na, viel Glück." Nachdem das herzhafte Gelächter im Saal verklungen ist, hört man, wie der Redner, Bill Clinton, seinen launigen Kommentar fortsetzt: "Da könnte man ja genauso gut versuchen, Wackelpudding an die Wand zu nageln."

Die Aufnahme, zu hören im Podcast der New York Times, stammt vom 9. März 2000. Bill Clinton lobt das im Jahr zuvor mit China getroffene Handelsabkommen, spricht sich für dauerhafte normale Handelsbeziehungen mit China aus und ist sich sicher, das Internet werde mehr Freiheit nach China bringen.

Die Menschen, die damals im Saal mit ihm gelacht haben, wissen es heute besser: China hat den Wackelpudding an die Wand genagelt. Dort ist das Internet heute das größte Semiintranet der Welt; Nachrichtenseiten, soziale Netzwerke, Regierungsseiten und viele andere beliebige Websites aus dem Westen werden geblockt. Die Mehrheit der Chinesinnen und Chinesen bezieht ihre Informationen von chinesischen Websites, die von der aufwendigsten und personalintensivsten Zensur- und Propagandamaschinerie der Welt kontrolliert, gefiltert und bespielt werden.

Was aber letztlich zum gegenwärtigen US-chinesischen Handelskonflikt geführt hat, ist das Nichteintreffen der dritten Annahme – dass die USA auf China Einfluss nehmen würden und nicht umgekehrt. In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben wir erlebt, wie China Hollywooddrehbücher unter Kontrolle bringt, sich Technologiekonzerne wie Microsoft, Apple und Google zumindest im eigenen Hoheitsgebiet Untertan macht, die Wall Street für seine eigenen Zwecke nutzt, die US-Raumfahrtindustrie infiltriert und sich den USA im Südchinesischen Meer entgegenstellt. "Wenn China erwacht" – der Napoleon zugeschriebene Satz ist keine Zukunftsvision aus vergangenen Zeiten mehr. China lässt die Welt längst erzittern, das kann niemand bestreiten.