Wir alle kennen sie. Diese Personen, die uns grundsätzlich viel zu nahe kommen. Die uns beim Anstehen an der Drogerie-Kasse warm in den Nacken atmen, uns bei der Arbeit das mittägliche Salamibrötchen ins Gesicht prusten oder eine so feuchte Aussprache haben, dass man vor lauter anfliegenden Tröpfchen unaufhörlich blinzeln muss. Wenigstens diese Erlebnisse bleiben uns während der Pandemie häufiger erspart: Wir halten Abstand zu jenen, die nicht gerade unsere Kinder oder Partner sind. Wir schützen andere mit einer Maske, die den feuchten Partikeln die Flugbahn versperrt. Ein Pluspunkt, dass dies sowohl die Ansteckungsgefahr senkt als auch dem eigenen Wohlbefinden dient.

Nun mehren sich die Hinweise, dass nicht nur die Distanz, aus der wir niesen, husten oder sprechen, entscheidend für die Ansteckung ist. Sondern auch die Art, wie wir die Stimme gebrauchen. Lautes Singen etwa könnte besonders problematisch sein. Zu Beginn der Corona-Pandemie erkrankten nach einem Chorkonzert in Amsterdam 102 von 130 Choristen, ein 78-Jähriger starb, ebenso drei Partner von Chormitgliedern. Fünf Tage später wurden in den Niederlanden dann sicherheitshalber alle Konzertsäle geschlossen. Auch in den USA traf sich ein Chor in der Nähe von Seattle im März zu einer Probe; mit fatalen Folgen: 45 Mitglieder erkrankten an Covid-19, zwei starben (Morb Mortal Wkly Rep: Hamner et al., 2020). Nach einer Probe des Berliner Domchors am 9. März erkrankten mehr als 50 Mitglieder.

Nun ist das alles zwar noch kein sicherer Beleg dafür, dass gerade das gemeinsame Singen maßgeblich für die Ansteckung war. Doch es spricht manches dafür. In Amsterdam galten zum Zeitpunkt des Konzerts zwar noch keine Abstands- und Hygieneregeln. Und die Sängerinnen und Sänger hatten bei den Proben zuvor wohl in kleinen Räumen eng beieinandergestanden. Doch zum Zeitpunkt der Chorprobe in Seattle galten die Schutzregeln bereits. Bei den Sängern der Berliner Domkantorei stand zumindest der Dirigent in einigem Abstand, ebenso saß die Korrepetitorin am Klavier etwas weiter entfernt. Trotzdem entwickelten auch die beiden wenig später Krankheitssymptome.

Wenn jemand nach einem Chorkonzert oder einer Sängerprobe erkrankt, heißt das zwar nicht, dass die Übertragung zwingend auf das kollektive Trällern zurückgeht. Schaut man sich jedoch die Gemeinsamkeiten vieler Ausbruchsorte an, dann fällt auf: Dort ging es oft laut zu. Ein Forscherteam um Gwenan Knight von der London School of Hygiene & Tropical Medicine hat diese und weitere Beispiele in einer Datenbank gesammelt (Wellcome Open Res: Leclerc et al., 2020). Auf das Phänomen aufmerksam geworden sei sie nach dem Bericht aus Seattle, sagte die Forscherin dem Magazin Science. "Vielleicht ist langsames, sanftes Atmen kein Risikofaktor, aber schweres, tiefes oder schnelles Atmen und Schreien schon."

Leise ... leiser ... und Schweigen ist eigentlich am sichersten

Inzwischen wissen wir, dass das Virus sich zumeist über Tröpfchen und über Aerosole, kleinste Schwebeteilchen in der Luft, überträgt. Wie viele dieser Minipartikel ein Mensch beim Singen und Sprechen mit der Atemluft herausschleudert oder -pustet, hängt von der Lautstärke ab. Je lauter, desto mehr mikroskopische Tröpfchen entstehen pro Sekunde. Je leiser, desto geringer wird ihre Zahl. Das ergab eine Studie (Nature: Asadi et al., 2019), in der die Versuchspersonen zunächst aufgefordert waren, Töne in verschiedenen Lautstärken zu formen und Sätze vorzulesen. In welcher der vier getesteten Sprachen – Englisch, Spanisch, Mandarin oder Arabisch – jemand sprach, hatte keine Auswirkung auf die Emissionsrate. Besonders interessant war aber, dass einige Testpersonen beim Sprechen viel mehr Aerosole erzeugten als andere – bis zu zehnmal so viele. Die Forscherinnen und Forscher bezeichneten sie als Speech Superemitters, Sprach-Super-Erzeuger, die wiederum zum Phänomen des Superspreading beitragen könnten, indem sie als wenige infizierte Menschen besonders viele andere anstecken.