Deutschland steckt in der dritten Welle. Die Corona-Infektionszahlen steigen wieder, seit die ansteckendere Mutante B.1.1.7 übernommen hat. Auf Intensivstationen könnten bald so viele Covid-19-Patienten behandelt wie noch nie in dieser Pandemie. Rund 80.000 Menschen sind hierzulande seit Beginn dieser Pandemie an Covid-19 gestorben.

Aber diese Zahlen sind nur Zahlen, sie sind kalt und glatt, unser Mitgefühl rutscht allzu leicht an ihnen ab. Das menschliche Gehirn ist eben nicht dafür gemacht, aus ihnen das herauszuholen, was sich hinter ihnen versteckt: eine Unmenge an Leid, an Hoffen, an Sterben und Trauern, aber auch an Überforderung und – um den inzwischen viel zu leichtfertig genutzten Begriff bewusst zu nutzen – an Traumata.

Die vierteilige Dokumentation Charité Intensiv: Station 43 liefert nun die Bilder, die die Tragödien dieser Pandemie vielleicht manchen erst fühlbar machen. Sie würdigt die Arbeit all der Ärztinnen und Pfleger, der Psychologen und Physiotherapeuten, die in deutschen Krankenhäusern seit einem Jahr – mit nur wenigen Unterbrechungen – an ihre Grenzen gehen.  

Vier halbe Stunden lang bewegt sich die Kamera über eine Intensivstation der Berliner Charité im Wedding. Nur selten verlässt sie das Krankenhaus und fährt in Einsatzwagen mit, begleitet eine der Ärztinnen auf einem Spaziergang durch den Wald oder fährt über die Dächer des Uniklinik-Campus, am Boden ein Blaulicht, am Himmel eine Feuerwerksrakete, ein stilles Silvester. Den vergangenen Winter lang, von Mitte Dezember bis März, hat das Team um den Regisseur Carl Gierstorfer das Team der Station begleitet. Entstanden ist ein minimalistischer Film, Musik gibt es nur zu Beginn und Ende jeder Folge, Effekte sowieso nicht. Zum Glück, denn die Bilder sprechen für sich.

Es ist ein Film, der Schläuche, Klammern, Kanülen, Dreiweghähne, Scheren, Beatmungsmaschinen, Monitore und Blut zeigt, der sich zwischen blauen Schutzkitteln, Visieren, piependen Maschinen und Krankenhausfluren bewegt. Dazwischen liegen die Menschen, die Corona ganz besonders schlimm erwischt hat. Es sind – mit diesem Vorurteil räumt der Film auf – nicht nur alte Menschen. Es sind sogar erschreckend oft junge. Auch wenn bundesweite Zahlen zur Altersstruktur der Corona-Intensivpatienten fehlen: Dass auf Station 43 viele junge Menschen liegen, teils in den Dreißigern oder Vierzigern, deckt sich mit dem, was einem Ärzte erzählen, die Corona-Patienten betreuen. Und womöglich wird das in Zukunft sogar noch deutlicher sichtbar werden, jetzt, wo viele ältere Menschen geimpft sind und die Fallzahlen bei den Jüngeren steil nach oben gehen.

Die Patienten müssen wieder sprechen lernen

Im Film kommt ein junger IT-Berater vor, der – für Corona ganz typisch – eine Lungenembolie entwickelt. Eine Oberärztin steht an seinem Bett und erklärt ihm die Behandlungsmöglichkeiten: Entweder mit einem aggressiven Mittel die Gerinnsel in den Lungenarterien lösen oder nur den Gerinnungshemmer Heparin geben, was die Situation stabilisiere, aber eben auch nicht viel mehr. Wenn er sich für die aggressivere Lyse entscheide, gebe es die Gefahr einer Blutung, auch einer Hirnblutung. Der Patient, ein Berg von einem Mann, ringt mit den Worten, japst dazwischen nach Luft. Das sei jetzt ja schon eine "existenzielle Frage", sagt er. Er wolle mit seiner Frau eine Wohnung kaufen und sei Alleinverdiener. Der Schreck, dass das nun mit ihm passiere, ist ihm deutlich anzumerken.

Der Patient entscheidet sich für das Heparin. Später in der Serie sieht man, wie ein Radiologe ihm einen Katheter bis in die Lungengefäße vorschiebt, eine Maschine versucht mit stampfenden Geräuschen das Gerinnsel anzusaugen und zu zerkleinern. Man sieht den Mann aufstehen und eine Treppe hochgehen, mit großer Mühe. Und man sieht ihn heimkehren.

Ein anderer Patient, aus dem künstlichen Koma erwacht, lernt mit seinem Luftröhrenschnitt wieder sprechen. Er soll seinen Vornamen sagen: "Marco." Als der Atemtherapeut längst aufgehört hat, Anweisungen zu geben, sitzt er noch da und sagt immer wieder stimmlos "Marco", so als müsste er sich vergewissern, dass er existiert.