Wenn es eines gab, worin sich breite Teile des politischen Spektrums in der kaum vergangenen Özil-Debatte einig waren, dann wohl in der Verwendung dieses einen Worts: Integration. Menschen können, so las man überall, schlecht integriert oder gut integriert, sogar hervorragend integriert sein, sie sind demnach mal integrationswillig und mal vollkommen integrationsunfähig. 

Das Zauberwort Integration bleibt im Diskurs um Zuwanderung kaum hinterfragt. Je nach politischem Kontext beschreibt es die Partout-Lösung oder eine Mangelerscheinung und verweist dabei meist auf das Bild der eingewanderten Musterbürger, die akzentarm Deutsch sprechen, die Nationalhymne bei gegebenem Anlass inbrünstig mitsingen, Schwarz-Rot-Gold jeder anderen Farbkombination vorziehen und sich irgendein heimattümelndes Detail angeeignet haben. Was lässt das deutsche Herz höherschlagen als die türkische Nachbarsfamilie, die jeden Sonntag Tatort schaut oder die Woman of Color, die nichts lieber isst als Sauerkraut und Spätzle? 

Desintegriert euch! heißt eine nun erschienene Polemik, die die Integrationsdebatte allein deshalb neu beleben wird, weil sie ihre zentrale Vokabel ablehnt. Der Autor: Max Czollek, 31 Jahre alt, Publizist, Lyriker und Kurator im Umfeld des Berliner Maxim-Gorki-Theaters. Sein Buch, leitet Czollek ein, sei zudem das "von einem, der auszog, kein Jude zu werden. Sondern ein Politikwissenschaftler, ein Schriftsteller und Intellektueller. Und von einem, der schließlich auch Jude wurde". 

Ein "deutsches Begehren"

Czollek schreibt also aus jüdischer Perspektive gegen das Integrationsparadigma an. Um ihm in seinem Appell zur Desintegration folgen zu können, muss man erst einmal verstehen, worin sein Problem mit der Integration besteht: Czollek spricht von einem "Integrationstheater", der stetigen Inszenierung einer Denkweise, für die die Idee eines gesellschaftlichen Zentrums maßgeblich ist. Ein monolithisches deutsches "Wir" spiele in dieser Inszenierung die Hauptrolle, das komplementäre "Ihr" sei vertreten durch zwei Nebenrollen. Auf der einen Seite die guten (das heißt: hervorragend integrierten) Migrantinnen und Migranten, auf der anderen Seite die bösen (also: gruppenvergewaltigenden, barbarischen, integrationsunfähigen). Ein deutsches Selbstverständnis speise sich vor allem aus der Abgrenzung zu diesem bösen "Ihr", während das gute "Ihr" die Weltoffenheit der eigenen Gesellschaft demonstriere. 

Die Beobachtung einer romantischen Verklärung von Migranten, ihrer Funktion als "Superdeutsche" ist vermutlich so alt wie der Integrationsdiskurs selbst. Czollek geht jedoch weiter: Das Integrationstheater sei nur eine von zwei Inszenierungen der deutschen Öffentlichkeit, denen er Publikum und Darsteller abtrünnig machen möchte: Eng verwandt sei das "Gedächtnistheater". Diesen Begriff prägte der Soziologe Michal Bodemann, um die Zurschaustellung einer betont vergangenheitsbewussten Erinnerungskultur zu beschreiben, die die jüdische Bevölkerung nach 1945 bis heute in eine perfide Rolle drängt. "Als reine und gute Opfer helfen Juden und Jüdinnen nun dabei, das Bild von den guten, geläuterten, normalen Deutschen zu stabilisieren."

Das "ganz besonders abgefuckte 20. Jahrhundert"

In dieser kathartischen Inszenierung, deren Regie ein "deutsches Begehren" führt, bleibe für die Realitäten jüdischer Vielfalt nicht viel Platz. Die einzig mögliche Rolle, schreibt Czollek, sei die des JfD, des "Juden für Deutsche". Und als solcher gerate man immer wieder in eine unfreiwillige Dienstleisterposition: Wenn ihm sein unbekanntes Gegenüber in der Kneipe unverzüglich von seinem SS-Opa erzählen würde, dann wüsste er, so Czollek, dass da mal wieder jemand seinen "Lieblingskanal in Jewporn" eingeschaltet habe. 

JfD, Jewporn – Czolleks Sprache ist Zeugnis einer aus jahrelangen Beobachtungen gespeisten Wut. Sie bedient sich an geisteswissenschaftlichen Termini ebenso wie an "Wowschwitz"-Witzen und erschafft einen Sound, der Czolleks Absage an das Gedächtnistheater performativ umsetzt: Hier spricht einer, der wütend ist auf den gegenwärtigen Umgang mit einem "ganz besonders abgefuckten 20. Jahrhundert".