Da steht sie. Die Wahlergebnisse haben gerade die Runde gemacht. Alle Kameras sind auf die alte und neue Chefin von Europas größter Volkswirtschaft gerichtet, Europas mächtigster Anführerin (New York Times). Sie lacht dieses Merkel-Lachen, das immer wie ein höfliches Grienen aussieht. "Danke", sagt sie und freut sich, weil die CDU trotz Stimmenverlusten ihre "strategischen Wahlkampfziele" erreicht hat. Was sie nach der Wahl nicht sagt, ist ein Wort mit nur zwei Buchstaben, aber größerer Bedeutung: EU.

Die Kanzlerin hat die Europäische Union vergessen, nicht nur am Wahlabend, sondern im gesamten Wahlkampf. Wahrscheinlich hat sie die EU sogar mit Absicht verheimlicht. Es gehörte ja offensichtlich nicht zu ihrem Wahlkampf-Kalkül, über strittige Themen zu streiten. Die Sache mit der EU ist dabei besonders empörend, da in den vergangenen Tagen zwei Dinge geschehen sind, die für die Deutschen und alle anderen Europäer von enormer Bedeutung sein werden.

Erst erklärte Emmanuel Macron in Athen vor der Akropolis die Neugründung der EU. Start der Megareform: jetzt. Ende: in zehn Jahren. Kurz danach ließ Jean-Claude Juncker in seiner Rede über die Lage der EU im Europaparlament ebenfalls alle EU-Bürger – also auch alle Deutschen – wissen, wie ihre Zukunft aussehen soll.

Es wird viel mehr und nicht weniger EU geben, so die Botschaften aus Athen und Straßburg in Kurzform. Das heißt: Europa kann nicht mehr so bleiben wie es ist. Das heißt auch: Deutschland kann nicht mehr so bleiben wie es ist. Daraus folgen wichtige Fragen für die deutsche Bevölkerung:

Erstens: Wenn ein neuer europäischer Wirtschafts- und Finanzminister sein Amt antritt, wie von der EU-Kommission angekündigt, wird er dann von einem neuen Euro-Raum-Parlament kontrolliert (Macrons Wunsch) oder vom bestehenden EU-Parlament (Junckers Plan)? Und was wird der Bundestag dazu sagen? 

Zweitens: Wenn die neue europäische Arbeitsbehörde, die kommen wird, der Einstieg in eine Sozialunion wird: Auf welche Weise wird das reiche Deutschland helfen, damit auch in ärmeren südeuropäischen Ländern eine europäische Mindestsozialhilfe entsteht?

Drittens: Wenn nun die neue europäische Staatsanwaltschaft bald länderübergreifend ermitteln darf, wie wirkt sich das auf deutsche Behörden aus? Wie arbeiten deutsche Polizisten mit europäischen Staatsanwälten zusammen?

Viertens: Bei der nächsten Europawahl sollen die Bürger transnationale Parteien wählen können. Geht Merkels CDU dann in Deutschland als Europäische Volkspartei an den Start – in einem Verbund mit Viktor Orbáns rechtspopulistischem Fidesz?

Und fünftens, die elementarste Frage: Wird das EU-Recht, also auch das deutsche Recht, grundlegend geändert? Wie dürfen alle Bürger über eine neue EU-Verfassung mitbestimmen?

Wer darauf in Deutschland Antworten erwartet, wohnt im falschen Land. Wie die Zukunftspläne hierzulande für die EU aussehen, ist auch nach vielen Wochen des Wahlkampfes nicht bekannt. Dabei hätte die Kanzlerin gerade in dieser Zeit ausführlich über eines der wichtigsten Themen unserer Zeit sprechen müssen. Die Wähler haben einen Anspruch darauf, dass über ihre Zukunft, die von der EU mitbestimmt wird, diskutiert wird. Demokratie heißt Debatte. Stattdessen taten die Spitzenkandidaten in den endlosen Fernsehtalkshows so, als läge die EU irgendwo in einem fernen Land. Diese Ignoranz ist das Problem.