Wenn Forscher und Politologinnen Polarisierung und Fremdenfeindlichkeit verstehen wollen, neigen Sie zu einem soziologischen Blick: Was denken Menschen über Grenzen und Fremde? Wie viel verdienen sie? Oder wie alt sind sie? In seinem neuen Buch Die aufgeregte Gesellschaft plädiert der Philosoph Philipp Hübl dafür, auch das Temperament der Menschen in den Blick zu nehmen.

ZEIT ONLINE: Herr Hübl, Die AfD positioniert sich gegen den Islam und Flüchtlinge und schürt Ängste vor Kriminalität, Gewalt und sozialem Abstieg. Nun könnte sie bei der Sachsen-Wahl zur stärksten Kraft werden. Ist ihre Strategie also aufgegangen?

Philipp Hübl: Wenn man es ganz schematisch sieht, ist Angst tatsächlich die Kernemotion der Konservativen und der Wähler von Rechtspopulisten. Wer Angst vor seiner Umgebung hat, der fordert beispielsweise mehr Polizei und härtere Strafen. Und in bildgebenden, neurowissenschaftlichen Studien aus den USA zeigt sich auch, dass Konservative einen größeren Mandelkern haben, eine Hirnregion, die für Emotionsverarbeitung, vor allem Angstempfinden, wichtig ist. Aber Angst allein führt nicht zu der Fremdenfeindlichkeit, die wir beispielsweise bei der AfD in Sachsen sehen. Denn Angst ist universell: Jeder Mensch und viele Tiere haben Angst. Fremdenfeindlichkeit ist zusätzlich durch Abscheu, also moralischen Ekel, geprägt.

ZEIT ONLINE: Und wie prägt Ekel die Politik und unsere Moralvorstellungen?

Philipp Hübl ist Philosoph und Buchautor. Bis 2018 war er Juniorprofessor für theoretische Philosophie an der Uni Stuttgart. Sein neues Buch "Die aufgeregte Gesellschaft" ist 2019 bei C. Bertelsmann erschienen. © Juliane Marie Schreiber

Hübl: Ursprünglich ist Ekel ein Mechanismus, der den Menschen vor Keimen schützen soll. Wir ekeln uns vor verdorbenem Essen, Leichnamen, Körperflüssigkeiten, Gerüchen von anderen Menschen. Und wenn wir uns vor etwas ekeln, halten wir uns davon fern. So hat der Ekelmechanismus seit jeher geholfen*, dass sich Menschen seltener mit Keimen anstecken.

ZEIT ONLINE: Und weiter?

Hübl: Menschen unterscheiden sich deutlich in ihrer Ekeldisposition, also darin, wie schnell und stark sie Dinge als abstoßend empfinden. Und Menschen, die sich stark ekeln, neigen dazu, eher konservative oder religiös-traditionalistische Auffassungen zu haben. Sie sind in ihren Werturteilen strenger, wenn es um Homosexualität geht, um Abtreibung, Sterbehilfe, Prostitution, Drogen, Sex vor der Ehe, Masturbation.

ZEIT ONLINE: Was sind das für Studien, die das zeigen?

Hübl: Studien mit Versuchspersonen aus mehr als 100 Ländern (Social Psychology and Personality Science: Inbar et al., 2011). Sie zeigen auch, dass man anhand der Ekelneigung das Wahlverhalten besser vorhersagen kann als über klassische Indikatoren wie Steuerpolitik, Bildungsstand oder Einkommen. Wer sich stark ekelt, wählt eher konservative oder traditionalistische Parteien.

Die Nazis haben ein auf Ekel basierendes Apartheidsregime eingerichtet.
Philipp Hübl

ZEIT ONLINE: Etwas, das Parteien durch Wortwahl oder Framing missbrauchen. So behaupten einzelne AfD-Politiker immer wieder, Migrantinnen und Migranten würden Infektionskrankheiten einschleppen.

Hübl: Ja, Ekel ist seit Hunderten von Jahren eine politische Taktik. Die Feinde der eigenen Gruppe werden als eklig darstellt, als Ratten beispielsweise. Ein Extremfall ist der Antisemitismus. Die Nazis haben ein auf Ekel basierendes Apartheidsregime eingerichtet, bevor sie mit dem systematischen Massenmord begannen. Juden seien ansteckend wie Bazillen und Trichinen, haben sie gesagt. Was Juden berührt haben, galt als ansteckend. Tassen, aus denen Juden getrunken hatten, wurden vernichtet. Sie durften nur auf bestimmten Bänken sitzen und nicht in Badeanstalten gehen.

ZEIT ONLINE: Was Sie da beschreiben, nennt sich Kontaktmagie – und nicht nur Antisemiten kennen es. In einem faszinierenden Versuch (Ethos: Nemeroff & Rozin, 1994) wurden Probanden gefragt, ob sie einen Pullover anziehen würden, den Adolf Hitler einmal getragen hat. Obwohl der Pullover chemisch gereinigt wurde, wollen die meisten Menschen das partout nicht. Warum eigentlich nicht?

Hübl: Das ist eine gute Frage. Dieser Vintagepullover kann ja nicht infektiös sein – und nach einer chemischen Reinigung steckt kein einziges Molekül von Hitler mehr dran. Evolutionsbiologen sagen, das hat mit der Vorstellung zu tun, dass der Pullover moralisch verunreinigt ist. Menschen wollen sich auch kein Blut spenden lassen von jemandem, der pädophil ist. Sie haben die Vorstellung, dass eine Verunreinigung des Charakters sich über die Körperflüssigkeiten überträgt. Wahrscheinlich verselbstständigt sich hier der archaische und evolutionär wichtige Ekelmechanismus.

*Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version enthielt der Text eine falsche doppelte Verneinung, die wir korrigiert haben. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.