Der Kampf gegen die Pandemie ist auch ein Kampf gegen die Verlockungen der ersten Sonnentage des Jahres. Kein Wunder bei 20 Grad Celsius Anfang April: Die Deutschen drängen nach draußen, in die Parks, in die Wälder, an die Promenaden, manch Unverfrorene sogar schon in den See. Einzig ein lang anhaltender Regen könnte die Leute wohl jetzt noch drinnenhalten. Der dürfte allerdings vorerst ausbleiben. Unwahrscheinlich also, dass alle am Osterwochenende brav vier Tage drinnenbleiben. Sich an den gebotenen Abstand zu halten, wird dann immer schwieriger. Umso wichtiger wäre es deshalb jetzt, Platz zu schaffen – und es gibt ihn ja!

Denn noch etwas ließ sich am Wochenende beobachten: Während Parks und Wälder übervoll waren, blieben die Straßen weitestgehend frei. Die allermeisten ließen das Auto stehen, mieden Bus und Bahn und gingen stattdessen zu Fuß in den Park oder nahmen ihre Fahrräder, um den nächstbesten Wald oder See anzusteuern. Dutzende Radlerinnen und Radler drängten sich auf den viel zu schmalen und holprigen Radwegen, die Massen schoben sich über die Gehwege – während gleich daneben feinster Asphalt unberührt blieb. Platz, den die Städte jetzt umwidmen sollten.

Denn solange Abstand und Rücksichtnahme möglich sind und eingehalten werden, spricht ja nichts dagegen, an die frische Luft zu gehen. Der Berliner Senat änderte deshalb zum Glück seine Ansage: Auf einer Parkbank zu sitzen, um etwa ein Buch zu lesen, ist in der Hauptstadt inzwischen wieder erlaubt. Auch der Aufenthalt im Park ist nicht mehr verboten. Allerdings soll, wer sich im Grün niederlässt, jetzt schon fünf Meter Abstand in alle Richtungen halten. So soll auch noch jemand zwischen den Verweilenden durchgehen können, ohne den Mindestabstand von zwei Metern zu brechen.

Das bedeutet allerdings, dass der Platz im Grünen in den Großstädten knapp wird. In Berlin etwa kommen auf 6.500 Hektar Park knapp 3,8 Millionen Menschen. Hielten sich alle an die Abstandsregeln, dürfte nur etwa die Hälfte der Berlinerinnen und Berliner gleichzeitig in die Grünanlagen. Die müssten sich dann auch noch schön gleichmäßig auf das ganze Stadtgebiet verteilen, denn Parks und Wälder sind oft weit weg. Wäre dagegen genug Platz vor der Haustür, müsste niemand weite Reisen unternehmen, um sich die Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen. Also gebt die Straßen frei!

Veränderung geschieht nicht von allein

Erste zaghafte Versuche in die richtige Richtung gibt es immerhin: In Berlin und dem kolumbianischen Bogotá entstehen sogenannte Pop-up-Bikelanes – ganze Fahrspuren werden da mittels Baustellenequipment abgesperrt und zu Radspuren umgewidmet. Auch tauchen Fotos auf von Kindern, die sich in den Wohngebieten von den Gehwegen trauen. Und bereits mehrere Tausend unterzeichneten eine Petition der Organisation Changing Cities, die eine fairere Verteilung des Straßenraums während des Lockdowns fordert.

Erfolgreiche Beispiele gab es auch schon vor dem Ausnahmezustand: Paris ließ vor vier Jahren die Straße entlang der Seine für den Autoverkehr sperren und hat seither eine Promenade, die auch einstige Gegnerinnen nicht mehr missen wollen. Seoul riss nach der Jahrtausendwende seine Stadtautobahn ab und bekam so nicht nur einen Fluss zurück: Der Verkehr fließt seither sogar besser. Und im Ruhrgebiet erinnert man sich gern an die Sperrung der A 40 für einen prächtigen Sonnentag im Jahr der Kulturhauptstadt 2010.

Es braucht einen dauerhaften Umbau

Zumindest Berlin hat sich mit dem Mobilitätsgesetz eigentlich längst einen stadtweiten Umbau verordnet, der jetzt fix umgesetzt werden könnte, da deutlich weniger Leute direkt unter der Veränderung litten. Dafür wären allerdings ein paar vereinzelte Pop-ups zu wenig. Das Gesetz sieht mutigere Entscheidungen vor: beispielsweise zwei Meter breite Radverkehrsanlagen an jeder Hauptstraße, also ein geschlossenes Radwegenetz durch die ganze Hauptstadt. Ähnlich sollten auch andere Städte den stark zurückgegangen Autoverkehr nutzen und dem stabil gebliebenen Rad- und Fußverkehr mehr Platz einräumen. Nicht nur, um bei Pandemien Abstand zu halten – auch um Schadstoffe zu sparen und das Klima zu schonen.

Aber damit nicht genug: Wenn die Parks entlastet werden und die Bewohnerinnen zumindest möglichst nah an ihren Wohnungen bleiben sollen, braucht es jetzt autofreie Wohngebiete. Anlieger und Lieferungen dürften selbstverständlich in Schrittgeschwindigkeit weiter rein und raus, alle anderen aber müssten draußen bleiben. Die Bürgersteige in den allermeisten deutschen Städten waren schon vor der Ansteckungsgefahr viel zu knapp bemessen, jetzt droht dort auch noch Ansteckung. Zeit für freie Fahrbahnen für freies Fußvolk! Auch hierfür gibt es genügend Beispiele, die zeigen, dass Straßenraum schnell kreativ genutzt wird: Kinder malen mit Kreide auf dem Asphalt, Erwachsene stellen sich Campingstühle bereit und lesen, selbst der gewohnte Spaziergang um den Block bekommt eine neue Qualität.

Infrastruktur ist mächtig, deshalb braucht es jetzt mutige Entscheidungen und Umbauten. Denn es mag Radfahrerinnen und Radfahrern zwar an den meisten Stellen längst erlaubt sein, die Fahrbahn zu nutzen. Doch der Kult um die freie Bahn für freie Autofahrer reicht in Deutschland nun mal so weit, dass er selbst dann noch wirkt, wenn ihm kaum noch jemand huldigt. Das zeigten eindrücklich die vielen, die sich am vergangenen Wochenende trotz freier Fahrbahn auf den Radwegen quälten. Sie nun auf die Straße zu locken mit attraktiven Wegen, würde auf dem Trottoir nicht nur mehr Platz schaffen, sondern auch den Konflikt zwischen Fußgängern und Radfahrerinnen dauerhaft entschärfen. Und die Polizei hätte dann endlich Kapazität, um sich den vielen Falschparkern zu widmen. Vielleicht ja sogar mit ähnlichem Engagement, wie sie in den vergangenen Wochen die Menschen in den Parks an die Regeln erinnerte.