Das Graffito fand sich lange vor der Corona-Krise überall: An Straßenlaternen, Pflanzkübeln, Sicherheitsbarrieren und sogar an einen Bagger wurde es gesprüht. "THE RiCH KiLLD NYC" – die Reichen haben New York getötet.

Wer dahintersteckt, ist unklar. Aber das Gefühl teilten viele. Wohlhabende Zuzügler verdrängten in den vergangenen Jahrzehnten mit ihren Luxusapartements Menschen, die sich die teuren Mieten nicht mehr leisten konnten. Altbekannte Läden mussten den Ablegern internationaler Ketten weichen, verrauchte irische Pubs verschwanden zugunsten von In-Lokalen im Instagram-Look.

"Die Reichen haben New York getötet" – der wütende Protest des Graffitos droht sich zu bewahrheiten. © Heike Buchter /​ ZEIT ONLINE

Am Südrand des Central Parks, den sein Schöpfer Frederick Law Olmsted einst als "demokratischen Ausdruck von höchster Bedeutung" entworfen hatte, erhebt sich nun eine Steilwand aus Wohntürmen. New Yorks Normalverdiener nennen sie "Billionaires Row", die Straße der Milliardäre. Der 90 Stockwerke hohe One57 ist so massiv, dass er im Winterhalbjahr die Mittagssonne blockiert und die Schaukeln des Spielplatzes dahinter in einen tiefen Schatten versenkt.

Die steigende Transparenz der Finanzbehörden in Steueroasen wie der Schweiz hatte New Yorks Immobilienmarkt noch attraktiver gemacht. "New Yorks schickste Wolkenkratzer sind die neuen Nummernkonten", ätzte einmal die New York Post. "If I can make it here, I can make it anywhere", hatte Frank Sinatra einst gesungen, doch zuletzt galt: Wer es in New York nach oben schaffen wollte, musste schon woanders erfolgreich gewesen sein. Der Boom der Ultra-Luxus-Immobilien hatte direkte Folgen für den Rest der Stadtbewohnerinnen und -bewohner.

Doch kaum hatte Covid-19 im März die Stadt erreicht, flohen die Wohlhabenden. 420.000 New Yorker, etwa fünf Prozent der Bevölkerung, packten zwischen Anfang März und Anfang Mai ihre Koffer – vor allem Menschen aus den Postleitzahlgebieten mit den höchsten mittleren Einkommen, wie die New York Times feststellte: Dort wurden Smartphones seltener genutzt und weniger Müll produziert.

Mehr als 40 Prozent der Bewohner verließen demnach die noble Upper East Side, wo Banker und Hedgefonds-Manager ihre Apartments haben. Auch das West Village, wo Entertainment-Größen zu Hause sind, leerte sich. Was sie einst anzog – die vielen Menschen aus aller Welt, die auf engstem Raum zusammenleben –, versetzt sie nun in Panik.

Sie fürchte sich davor, während einer Epidemie auf so einer dicht besiedelten Insel zu bleiben, gab eine Investmentberaterin zu, bevor sie sich auf unbestimmte Zeit verabschiedete. Die Mitarbeiterin eines Vermögensverwalters ging ins waldige Vermont, "der Kinder wegen". Er sehe keinen Grund zurückzukehren, ließ ein Börsenhändler wissen, der sich bis zur Corona-Krise ein Leben woanders gar nicht vorstellen konnte.

Der Stadt fehlen die Mittel, die Not zu bekämpfen

Viele der Geflohenen sehen das offenbar ähnlich. Während der Immobilienmarkt in New York City praktisch zum Erliegen gekommen ist, überbieten sich die Interessenten in den grünen Vorstädten und den Hamptons, der Goldküste am Atlantik, zwei Autostunden entfernt. Villen mit Swimmingpool sind besonders begehrt.

Für die Zurückgebliebenen wurden die Sirenen der Krankenwagen zum neuen Soundtrack der City. Die Bilder der Kühlwagen, in denen sich Leichen stapelten, waren weltweit zu sehen. 23.700 New Yorker sind inzwischen im Zusammenhang mit Covid-19 gestorben. Die Zahl der neuen Ansteckungen und der täglichen Toten mag abgenommen haben, die ökonomischen Folgen haben gerade erst begonnen. 900.000 Jobs sind allein seit Anfang März vernichtet worden. Einer von vier Einwohnern leidet Hunger.

Während die Not täglich schlimmer wird, fehlen der Stadt die Mittel, sie zu bekämpfen. Der Steuerausfall über die kommenden zwei Jahre werde sich auf mehr als neun Milliarden Dollar belaufen, prognostizierte Bürgermeister Bill de Blasio. Der U-Bahn, auf die vor allem Bewohner in den bezahlbareren Gegenden angewiesen sind, drohen ebenfalls die Mittel auszugehen, sollte eine Kapitalspritze von 7,8 Milliarden Dollar aus Bundesmitteln ausbleiben.

Jetzt wären die Reichen nötiger denn je, ihre Steuern, ihre Spenden. Bereits ihre bloße Anwesenheit würde helfen. Schon einmal, in den Siebzigerjahren, erlebte New York die Folgen eines ähnlichen Exodus. Die Stadt wurde auf Jahrzehnte von Armut und Kriminalität heimgesucht. Erst Ende der Achtzigerjahre begann die Erholung.

Nicht zuletzt durch Donald Trump, der mit dem Bau seines Trump Tower mit dem viel geschmähten rosa Marmor in der Empfangshalle wieder Glanz und Glitzer an die Fifth Avenue brachte. Doch der Präsident, in seiner Heimatstadt unbeliebt wie sonst kaum irgendwo, hat seinen offiziellen Wohnsitz bereits letztes Jahr nach Palm Beach verlegt, der Reicheninsel Floridas. "THE RiCH KiLLD NYC" war als Kritik gedacht. Nun droht es zur Prophezeiung zu werden.