Wahlkampf und -ergebnisse 2017 haben gezeigt: Es gibt keinen Wunsch nach echtem gesellschaftlichem Wandel – jedenfalls keinen unverzerrt sichtbaren. Trotz erhöhter Wahlbeteiligung und deutlichen Wählerwanderungen gilt: Wählen waren letztlich vor allem jene, die den Wandel nicht zu brauchen glaubten, weil sie mit der aktuellen Politik zufrieden sind, und meinen, dass es auch in Zukunft so bleiben wird und sollte. Diejenigen aber, die einen Wandel wirklich bräuchten, weil sie ihr Leiden unter der gegenwärtigen Politik beim besten Willen nicht mehr ignorieren können, sollten eigentlich das größte Interesse daran haben, wählen zu gehen. Doch gerade unter ihnen findet man vor allem zwei Gruppen: Jene, die alle Hoffnung auf Veränderung aufgegeben haben, und nicht wählen. Und jene, deren Enttäuschung sich in Wut verwandelt hat, und die extrem – vor allem rechtsextrem – wählen.

Beide Gruppen wachsen. Aus Sicht der Politik aber sind sie weiterhin uninteressant. Politiker haben sich damit abgefunden, die sogenannten Abgehängten, diese schwer berechenbaren Wählergruppen, nicht mehr erreichen zu können. Sie machen sich erst gar nicht mehr die Mühe, das zu versuchen. Doch gerade diese Menschen sind wichtig für einen bitter nötigen, tiefen gesellschaftlichen Wandel. Ohne sie ist er nicht zu machen. Und die etablierte Politik hat naturgemäß kein Interesse daran, diesen Wandel zu beschleunigen.

Wer also sind diese Menschen? Zunächst einmal eint sie, wie gesagt, eine fundamentale Enttäuschung gegenüber Politik und das ohnmächtige Gefühl, auf demokratischem Wege nichts mehr in der Gesellschaft verändern zu können. Dabei sind beide Gruppen auf ihre Weise Verlierer einer Politik, die ihnen die Lebensgrundlagen systematisch abgegraben und ihnen das auch noch als Fortschritt verkauft hat.

Ein bedenkenswerter Zusammenhang zwischen Nicht- und Extremwählern lässt sich an einem Begriff verdeutlichen, der heute meist nur in der Ökonomie angesiedelt wird, selten aber im Bezug auf Politik und Wahlverhalten: Privatisierung. Denn was im Zuge neoliberaler Wirtschafts- und Finanzpolitik in den vergangenen Jahrzehnten an ökonomischer Privatisierung öffentlichen Eigentums zum Gewinn von immer Wenigeren durchgesetzt wurde und wird, findet inzwischen auch einen deutlichen Widerhall in der Politik.

Dabei wäre die Entpolitisierung, kulminiert in Colin Crouchs Begriff der Postdemokratie und hier veranschaulicht durch das Nichtwählen, gewissermaßen die erste Stufe einer Privatisierung des Politischen. Was eigentlich in eine öffentliche politische Diskussion gehört, in der Meinungsbildung betrieben und Wahloptionen verhandelt werden, findet allenfalls noch in der Halböffentlichkeit des (analogen oder digitalen) Stammtischs oder in der völligen Privatsphäre des heimischen Wohnzimmers statt. Oder eben überhaupt nicht mehr. Diese Entpolitisierung kann man auch als passive Privatisierung sehen. Und sie betrifft meistens die alleruntersten sozialen Schichten.

Donald Trump regiert als Privatmann

Was sich aber nun in den letzten Jahren vermehrt beobachten lässt, ist eine zweite, sich – wie unreflektiert auch immer – (wieder) aktivierende Stufe einer Privatisierung der Politik, für die das Phänomen Donald Trump nur der exemplarische Ausdruck ist. Denn so wenig Trump jemals die wahren Ursachen einer globalisierten ökonomischen Privatisierungspolitik zu bekämpfen beabsichtigte – das genaue Gegenteil ist der Fall –, so sehr gelang es ihm auf der anderen Seite, ihre gesellschaftlichen Folgen zu instrumentalisieren. Trump brachte, aus der Welt des Reality TV, des sprichwörtlichen "Unterschichtsfernsehens" kommend, nicht zuletzt mithilfe von sozialen Medien deren Umgangston in die große Politik. Trump machte somit das private Flur- und Stammtischgespräch in der politischen Öffentlichkeit salonfähig. Er regiert per Twitter und Dekret nicht als Politiker, sondern als Privatmann. Es gibt keine Trennung mehr zwischen der Privatperson Trump und dem, was sie politisch repräsentiert.

Und so lässt sich auch seine Politik selbst, sein plakativer Nationalismus, als Phänomen der Privatisierung deuten. Was sich als Ausdruck der Gemeinschaft und eines neuen Wir-Gefühls inszeniert, unterschlägt dadurch, dass es letztlich nur über Abgrenzung von anderen (Staaten, Minoritäten etc.) funktioniert und dadurch im Prinzip nicht viel anderes ist als das politische Pendant zum neoliberalen Individualismus des privaten Vorteils, sprich der ökonomischen Privatisierung. Nur eben aufbereitet für deren Verlierer, und darunter übrigens vor allem diejenigen, die von ihnen noch vergleichsweise mehr zu verlieren haben. Dieser größere Grund für Verlustangst erklärt auch den teilweise noch höheren Anklang rechtspopulistischer Politik im mittleren Bildungs- und Einkommensniveau als im unteren. Das gilt etwa vor allem für die AfD.

Das Extremwählen also wäre als eine versuchte Gegenprivatisierung zwar eine Form von Widerstand und als solche eben nicht nur negativ zu bewerten. Nur stärkt sie leider im Unwissen der wahren Zusammenhänge letztlich doch vor allem wieder dasjenige, was sie eigentlich bekämpfen wollte – oder zumindest bekämpfen wollen müsste. Es ist eine der großen gesellschaftlichen Fragen der Gegenwart, warum die jahrzehntelange planmäßige Enteignung und soziale Erosion der Massen vor allem rechten und nicht linken Bewegungen so massiven Auftrieb gegeben hat – jedenfalls bislang. Denn es gibt ja etwa mit Syriza, Podemos,  Sanders, Corbyn und vielleicht sogar dem winterlichen Strohfeuer um Martin Schulz auch Zeichen in der anderen Richtung.

Wahlpflicht oder Losverfahren?

Doch ansonsten bleiben bei uns die Schein-Sozialdemokratisierung des konservativen politischen Spektrums, besonders der CDU, und die vorhergegangene Neoliberalisierung der Sozialdemokratie das vergebliche Zielen auf eine Mitte, die sich nicht zuletzt im Zuge dieser Entwicklungen zu verflüchtigen droht. Und gerade die SPD ringt existenziell mit der Verantwortung für die sozialen Verwerfungen ihrer Agendapolitik. Sie wäre gerne stolz darauf, kann es aber, beim Anblick all der Agenda-Verlierer, nicht sein. Und Angela Merkel tut wiederum so, als sei die aus der Agendapolitik resultierende schwarze Null ihr Verdienst.

Was also ist zu tun? Die politische Privatisierung ließe sich auf verschiedene Weisen bekämpfen. Gegen mangelnde Wahlbeteiligungen wird zum Beispiel das Einführen einer Wahlpflicht diskutiert. Das hätte den mittelbaren Effekt, dass sich die Politik dann auch wieder um die aktuell vernachlässigten Nichtwähler kümmern müsste. Ähnliche Wirkungen könnten aber auch partiell eingeführte Losverfahren zur Ergänzung von Repräsentationswahlen hervorrufen. Sie hätten den Vorteil, der bloßen Wahl eines parlamentarischen Repräsentanten eine partielle Verpflichtung zu echter parlamentarischer Partizipation gegenüberzustellen und dadurch auch ein Bewusstsein politischer Verantwortung zu kultivieren. Beide Maßnahmen aber könnten im optimalen Fall nicht nur die Nichtwähler in die Politik zurückholen, sondern dürften dadurch auch die Gefahr extremer oder extremistischer politischer Positionen verringern. Denn sie würden eine ihrer Hauptursachen bekämpfen: das ohnmächtige Gefühl, sowieso nichts verändern zu können.