Hier, an der griechisch-türkischen Grenze, verliere ich seit Tagen den Glauben an Europa. Was ist aus den edlen Werten geworden, für die Europa und wir als seine Bürgerinnen und Bürger stehen? Die Würde des Menschen ist unantastbar – dieser Satz ist meine deutsche und europäische Leitkultur. Egal welche Hautfarbe, Religion, sexuelle Orientierung und Identität, Ethnie – wir alle sind gleichberechtigt im deutschen Grundgesetz. Doch hier, im kleinen Grenzort Kastanies, verliere ich meinen Glauben an all das, was ich auf meinen Reisen in die arabische Welt erzähle: dass man Europa und Deutschland, meiner Wahlheimat, vieles vorwerfen kann – aber dass hier zumindest die Menschenrechte eingehalten werden.

Ich bin enttäuscht. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde, hier ist sie nicht vorhanden. Hier, an seiner südöstlichen Außengrenze, fängt Europa an seine Seele zu verlieren.

Die griechischen Sicherheitskräfte setzen Tränengas ein, wo Kinder und Säuglinge mit ihren Müttern ausharren. Geflüchtete erzählen, dass sie beim Grenzübergang von griechischen Sicherheitskräften geschlagen und zurück in die Türkei geschickt wurden. Die schreienden Frauen, Männer und Kinder an der Grenze sind für uns offenbar nicht Mensch genug, als dass für sie die Menschenrechte gelten sollten.

Ich sehe an der Grenze keine Bedrohung für Europa

Wir dürfen Unmenschliches nicht zur Gewohnheit werden lassen. Wenn die Geflüchteten die Grenze der EU nicht überschreiten dürfen, dann überschreiten wir die Grenze der Menschlichkeit. Zusammenhalt, Toleranz und Solidarität gegenüber Menschen, die alles verloren haben – was sind diese europäischen Grundwerte noch wert, wenn wir an der Grenze selektieren, wer menschenrechtswürdig ist und wer nicht? Menschenrechte sind nicht selektiv. Sie sollen Menschen, die schwach und in Not sind, vor der Willkür schützen. Und zwar vor der Willkür aller Seiten.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan instrumentalisiert die Flüchtlinge für seine eigenen Interessen. Von ihm als Nichtdemokrat habe ich nichts anderes erwartet. Aber was ist mit der EU, die 2012 den Friedensnobelpreis für ihren Einsatz für die Menschenrechte bekommen hat? Was tut die EU? Die 27 Mitgliedsstaaten wollen eine Note an die Türkei senden – Flüchtlinge seien nicht als Druckmittel zu missbrauchen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen lobte den griechischen Premier Kyriakos Mitsotakis und bezeichnete Griechenland als Schutzschild Europas.

Wenn ich hier an der Grenze stehe, sehe ich keine Bedrohung für Europa. Ich sehe verzweifelte, durchgefrorene, arme, hungrige und Not leidende Menschen, die ihre Heimatländer auf der Suche nach einem besseren Leben verlassen haben. Keine Menschen, vor denen wir uns schützen müssen, sondern Menschen, die wir schützen müssen.

Niemand verlässt sein Zuhause ohne Not

In Griechenland wurde das Asylrecht ausgesetzt: Einen Monat lang sollen keine Anträge angenommen werden. Eine rechtliche Basis gibt es dafür nicht, kritisierten auch die UN. Trotzdem wollen die Griechen daran festhalten. Eigentlich sind die EU-Mitglieder doch Rechtsstaaten, in Europa herrscht doch das Gesetz, dachte ich. Das alles macht mich sprachlos. Das Asylrecht ist ein Menschenrecht!

Zumindest müssen die Menschen einen Asylantrag stellen können. Die rechtliche Prüfung des Asylverfahrens entscheidet, ob ihr Antrag genehmigt wird oder nicht. Dieses Recht einfach so auszusetzen, ohne jegliche rechtliche Grundlage, ist für mich eindeutig ein Verstoß gegen die Menschenrechte. Genau das hätte nicht passieren dürfen, vor allem nachdem Rechtsradikale auf Lesbos NGO-Mitarbeiter und Journalisten angegriffen haben. Welche Bestätigung schicken wir damit an die Rechten in Europa! Diese Politik der Ausgrenzung, der selektiven Priorisierung anhand von Herkunft, Religion oder Hautfarbe, ist menschenverachtend. Was unterscheidet uns in der Migrationspolitik jetzt noch von den Rechten in Europa? Was unterscheidet uns von Weidel, Höcke und Orbán?

Niemand verlässt sein Zuhause ohne Not. Niemand verlässt sein Zuhause, wenn er dort ein Auskommen findet, wenn er sich sicher fühlt, wenn Frieden herrscht, wenn seine Kinder zur Schule gehen können. Wie können diese paar Tausend Menschen an der EU-Außengrenze uns Europäer all unsere Werte vergessen lassen?

Warum lassen wir diese Menschen allein?

Der Bundestag lehnt sogar die Aufnahme von 5.000 Flüchtlingen aus Griechenland ab. Die Grünen wollten, dass Deutschland 5.000 unbegleitete Kinder, Schwangere, allein reisende Frauen oder schwer Traumatisierte aus den griechischen Flüchtlingslagern aufnimmt. Diese Menschen könnten wir sein. Warum lassen wir diese Menschen, die in Not sind, allein?

Humanitäre Hilfe sofort, Kontrollen und Identitätsprüfungen der Gestrandeten, Prüfung der Schutzbedürftigkeit – das wäre jetzt der richtige Weg. Stattdessen stecken 26 EU-Politiker den Kopf in den Sand und schieben Griechenland 700 Millionen Euro Soforthilfe zur Grenzsicherung zu. Der Preis: ein täglich wachsendes Elendslager vor den Toren unseres Kontinents, kranke und traumatisierte Kinder, Frauen, Menschen.

Wo sind die Menschenrechte in Europa, wenn sie gebraucht werden? Ich will den Glauben daran nicht verlieren. Ich will weiterhin in die arabische Welt reisen und erzählen, dass Europa für Menschenrechte steht!