DIE ZEIT: Herr Kardinal, was dachten Sie, als Sie am Ostermontag vom Tod des Papstes erfuhren?
Walter Kasper: Ich war überrascht, weil ich damit nicht gerechnet hatte. Aber ich dachte auch: Am Ostermontag zu sterben, das heißt, in die Auferstehung hinein zu sterben. Da erfüllt sich seine letzte Predigt vom Ostersonntag, die er zwar nicht mehr selber halten konnte, die aber sagte, was Christsein heißt: Wir dürfen nicht stehen bleiben, wo wir jetzt stehen. Wir sollen immer weitergehen und dürfen stets Hoffnung haben auf einen neuen Anfang. Auch in der Stunde unseres Todes.
ZEIT: Für Sie war Franziskus nicht nur Papst, sondern auch Freund. Sie haben ihn insbesondere am Beginn seines Pontifikats aktiv unterstützt. Und Sie schrieben ein Buch über ihn: Papst Franziskus. Revolution der Zärtlichkeit und der Liebe. Wie haben Sie sich zuletzt ausgetauscht?
Kasper: Nicht nur die, die ihn näher kannten, werden ihn vermissen, wir alle haben einen bedeutenden Freund verloren. Denn er war ein Mensch, dem es zuerst um die Menschen ging. In seiner Enzyklika Fratellitutti hat er erklärt, dass wir alle Brüder und Schwestern sind, und damit meinte er nicht nur die Katholiken, nicht nur die Christen, sondern wirklich alle. Sein Wunsch war, dass wir uns trotz aller Unterschiede geschwisterlich verhalten: gegenüber den Armen, gegenüber denen, die an etwas anderes glauben, gegenüber denen, die uns fremd erscheinen. Das hat er als Papst selbst vorgelebt. In letzter Zeit haben wir einander nur noch geschrieben, und sein letztes Brieflein an mich vom Anfang dieses Jahres beginnt typischerweise nicht mit einer pompösen Grußformel, nicht mit hochwürdigste Exzellenz oder Eminenz, nicht höfisch, sondern schlicht: Lieber Mitbruder! Das war der bescheidene und unverstellte Ton, in dem Franziskus schrieb und sprach. Er zeigte, dass wir im Herzen Brüder sind.
ZEIT: Konnten Sie ihn in letzter Zeit noch besuchen, womöglich sogar in der Klinik?
Kasper: Nein. Ich habe respektiert, dass er seine Ruhe brauchte. Seine Kontakte nach außen waren auf ein Minimum beschränkt, auf das Notwendigste. Ich bin ja als Kurienkardinal emeritiert und musste ihn nicht noch einmal sehen. Außerdem hatte ich selber über Wochen hinweg eine Bronchitis, das wäre für ihn viel zu riskant gewesen, selbst wenn ein Besuch erlaubt oder nötig gewesen wäre. Auch ohne ihn noch einmal besucht zu haben, weiß ich: Wir haben einen großen Papst verloren. Da ist jemand heimgegangen, den man vermissen kann.
ZEIT: Sie wohnten 2013 während des Konklaves im vatikanischen Gästehaus Casa Santa Marta in einem Zimmer gegenüber dem seinen. Nachdem er gewählt worden war, erzählte er beim Angelus-Gebet, dass er Ihr damals gerade erschienenes Buch Barmherzigkeit gelesen habe. Wie erlebten Sie ihn während des Konklaves?
Kasper: Ich habe ihn nicht erst 2013 kennengelernt, sondern kannte ihn schon während seiner Zeit als Erzbischof von Buenos Aires als einen Anwalt der Armen. Er besuchte sie regelmäßig in den Slums. Er lebte, was er predigte. Das hat nicht allen gepasst, aber er hat es durchgehalten, auch als Papst in Rom. Vielleicht hat er nicht alle Erwartungen erfüllt, aber er ist sich treu geblieben. Seine frohe Botschaft, über die manche Konservative sich ärgerten, lautete: Man darf als Christ nicht stehen bleiben. Man muss immer etwas tun. Das war auch Thema seiner grünen Enzyklika Laudato si’: Wir müssen unseren Lebensstil ändern, wir dürfen zumal im Westen nicht weitermachen wie bisher, sondern müssen uns bescheiden und teilen.
ZEIT: Was bleibt von seinem Pontifikat?
Kasper: Er war anders Papst, als wir das vorher kannten, auf eine sympathische Weise nahbar. In der Kurie stieß er damit oft auf Befremden, weil er anders auftrat, gar nicht erhaben. Das mussten einige erst verdauen. Man kann sagen: Er war ein menschlicher Mensch.
ZEIT: Was war noch schwer verdaulich an ihm?
Kasper: Er sprach gern frei von der Leber weg, und das ist für einen Papst dann doch riskant. Er sagte frei heraus, was er dachte, scheute sich nicht, Fehler zu machen, konnte aber auch Fehler eingestehen. Oft wurde er falsch verstanden, weil er sich nicht theologisch abstrakt, sondern gern in Bildern ausdrückte.
ZEIT: Oft hieß es über ihn, er sei kein Theologe. Über Benedikt XVI. hingegen lautete das Verdikt, er sei nur Theologe gewesen. Was stimmt?
Kasper: Franziskus war kein professioneller Theologe, das hat er sich auch nicht eingebildet. Aber er verstand es, selbst schwierige theologische Fragen für alle verständlich auszudrücken. Das war eine prophetische Gabe.
ZEIT: Eines seiner wichtigen Anliegen hat er sperrig ausgedrückt. Er warb bis zum Schluss für "Synodalität" und eine "synodale Kirche". Was meinte er damit?
Kasper: Eine nicht klerikale, sondern geschwisterliche Kirche, in der wir Katholiken gemeinsam auf dem Weg sind und gemeinsam entscheiden: Priester und Bischöfe, Frauen und Männer, Laien und Geistliche … Das konnte er nicht mehr selber zum Abschluss bringen, da ist sein Pontifikat noch unvollendet.
ZEIT: Viele Kommentatoren befürchten jetzt einen reaktionären Papst, der diesen Weg der Erneuerung nicht weitergehen will. Könnte im Konklave ein "Rechter" gewählt werden?
Kasper: Ich weiß nicht, wer der nächste Papst wird. Da müssen Sie mit dem lieben Gott telefonieren. Weil die meisten Kardinäle, die jetzt wählen werden, von Franziskus ernannt wurden, glaube ich nicht, dass der nächste Papst zerschlägt, was sein Vorgänger begonnen hat. Die meisten Kardinäle wissen, wir brauchen einen Papst, der Spaltungen überwindet, innerhalb und außerhalb der Kirche.
ZEIT: Worum ging es eigentlich vor zwölf Jahren in Bergoglios legendärer Reformrede, die er im Vorkonklave vor den Kardinälen hielt?
Kasper: Nicht um Reformen im engen Sinne, dass man jetzt an dieser und jener Schraube drehen müsse. Es ging um weit mehr, eine zeitsensible Auslegung des Evangeliums und darum, wie man es Menschen nahebringt. Dazu gehört, dass man es niemandem aufzwingen darf und dass unser Gewissen eine entscheidende Rolle spielt für die Art, wie wir den Glauben leben. Bergoglio hatte in den Diskussionen wenig gesprochen, aber in seiner kurzen, frei gehaltenen Rede sagte er klar, was Gott heute von uns will.
ZEIT: Was werden Sie persönlich vermissen?
Kasper: Ich bin dankbar, diesem Papst begegnet zu sein. Eine seiner Stärken war, dass er die eigenen Schwächen nicht vertuschte. Und er redete den Leuten nicht nach dem Mund. Es war deshalb immer schön, ihm zu begegnen. Jetzt tröstet mich, dass er uns alle am Ostersonntag noch gesegnet hat, ehe er gestorben ist. Ich freue mich für ihn, dass es ihm nun gut geht. Er ist jetzt im ewigen Frieden.