Mit Karl Dall stirbt auch ein Teil der alten Bundesrepublik. Im Deutschland der Siebziger- und Achtzigerjahre war das Fach Comedy (oder waren Komiker, wie man das damals noch nannte) klar aufgeteilt: Otto war der Anarchist, bei dem alles schnell, laut und wild war; Didi Hallervorden war der Clown für die ganze Familie; Mike Krüger war der immer etwas zu ambitionierte Klassenprimus mit dem Nippel; und dann gab es Karl Dall: Bei Dall wusste man nie so genau, was man bekommt. Klar, am Anfang seiner Karriere, als Bandmitglied der legendären Insterburg & Co, da hat er noch funktioniert, setzte die geschriebenen Pointen perfekt getimt um. Organisierte Anarchie. Das war im Grunde genommen seine Schule. Das änderte sich ab dem Moment, in dem sich die Band auflöste. Das Organisierte fiel weg.

Der Witz, der Humor, die sich Bahn brachen, war zwar schon immer da, aber von da an ungezügelt. Kein Bandkonstrukt hielt ihn mehr zurück. Karl Dalls Lieblingspose war: immer am falschen Platz zu sein. Es war der Kern, das Wesen seines Humors. Als Hausmeister bei Verstehen sie Spaß, als Ostfriesentrottel auf den Balearen in Sunshine Reggae auf Ibiza oder als Talkmaster in seinen zahlreichen eigenen Shows bei diversen Sendern, allen voran dem legendären Dall-As beim damals noch jungen, wilden und lauten RTLplus. Karl Dall war immer da und hat immer gestört, nie reingepasst. Wie ein Puzzleteil auf einem Schachbrett. Das hängende Auge, die Halbglatze, die speckigen Lederwesten. Eigentlich war Dalls Meisterwerk, so fürchterlich normal zu wirken. Wie eine Biertulpe in der Glitzerwelt des Fernsehens, wo doch alles nur Champagner ist.

Dall schien zu wissen, dass man sich einen wie ihn leistet, und drehte den Spieß jedes Mal um. Er entwickelte eine diebische Freude daran, Witze zu machen, über die niemand lacht. Er war die Antithese zu allem. In seiner ersten großen Talkshow Dall-As perfektionierte er diese Rolle: In einer Welt, in der das Privatfernsehen sowieso gerade mit lauter TV-Dogmen aufräumte, griff er eines der ältesten und gediegensten Formate des deutschen Fernsehens frontal an: den Talk.

Karl Dall in einer Wanne, 1972 in der "Reinhard-Mey-Show" © United Archives/​imago images

In seiner Show wurde gepöbelt, gesoffen, geraucht und gelacht. Alles war unanständig, Roland Kaiser verließ sogar beleidigt die Show. Eine als Playboy-Bunny verkleidete Frau servierte die Getränke. Und Dall tat so, als wäre er kein bisschen vorbereitet. Er nutzte die Biografien seiner Gäste, stocherte so lange darin herum, bis er endlich den einen gelungenen Gag fand, der ihm gefiel. Dabei war es ihm noch nicht mal wichtig, ob er den machte oder sein Gast. Hauptsache, er fand ihn lustig. Was wirkte, als würde er pöbeln, war also in Wirklichkeit eine Art Versuchsaufbau. Dall inszenierte sich als totaler Loser, der so tut, als wäre er ein ganzer Kerl. Ein Gernegroß, der aus Unwissenheit kein Blatt vor den Mund nimmt. Das war seine Rolle, darin fühlte er sich wohl.

Die Fenster im Fernsehen wurden mit der Zeit allerdings immer kleiner für einen wie ihn. Er machte in den Neunzigern noch diverse Shows, die immer auf ihn zugeschnitten waren, ihm also maximale Freiheit boten. Aber dann kam die Comedy-Welle über Deutschland. Plötzlich wurde Stand-up groß: Bis auf den Gagknochen runtergestrippte Programme, die sich von Punchline zu Punchline hangelten und von ihren Vertretern akribisch einstudiert und vorgetragen wurden. Comedians traten in verschiedenen Shows mit den immer exakt gleichen Nummern auf und wurden gefeiert.

Das Fernsehen, auch die Privatsender, reglementierten sich immer strenger, alles wurde formatiert, sah so gleich wie möglich aus, nichts durfte den Fluss der Bilder und Werbebilder stören. Keine Welt für einen wie Dall. Der kleine, große Mann aus der Kneipe nebenan wurde zum Auslaufmodell in einer knallbunten Flitterwelt zwischen Loveparade und Verona Pooth, die damals noch Feldbusch hieß. Doch Dall fand auch dort noch seine Bühne: Er tourte und tingelte, erst mit Best-of-Programmen, später mit einem Ein-Personen-Theaterstück. In die Theater und Kleinkunstbühnen, da kamen die Leute noch, um ihn zu sehen.

Wann immer man Karl Dall in den letzten Jahren noch im Fernsehen sah, nahm man eine sanfte Wandlung wahr. Karl Dall war weicher geworden. Die Unverschämtheit wich einer Nostalgie. Er wirkte in Interviews fast sentimental, bis ihm wieder einfiel, wodurch er eigentlich bekannt geworden war. Dann sammelte er sich kurz und riss dann wieder eine seiner klassischen Zoten. Sein letztes Engagement war in der Telenovela Rote Rosen. Ausgerechnet er in einer Telenovela. Da war er wieder, ein letztes Mal: der Mann, der so schön fehl am Platz sein konnte wie niemand sonst. Nun ist Karl Dall mit 79 Jahren gestorben.