Vor allem ein Wort fällt immer wieder, als Angela Merkel gemeinsam mit Chinas Ministerpräsident Li Keqiang am Donnerstag in Peking vor die Presse tritt: Gegenseitigkeit. "Wir setzen auf fairen und freien Handel, der reziprok ausgestaltet sein muss", sagt Merkel. Auch Li spricht von gemeinsamen Zielen und gegenseitigem Respekt. Aber er legt auch Wert auf ein anderes Wort: Augenhöhe. So wünscht er sich das deutsch-chinesische Verhältnis. So will China von Deutschland wahrgenommen werden.

Merkel ist zum elften Mal nach China gekommen, sie war inzwischen öfters hier als jeder andere westliche Regierungschef – und dennoch betritt auch sie diesmal Neuland. Denn China hat sich verändert. Nicht nur wegen der ungeheuren wirtschaftlichen Dynamik, des Baubooms und der Glitzerfassaden, die jetzt überall zu sehen sind. Die chinesische Führung ist selbstbewusster geworden, formuliert die eigenen Ansprüche deutlicher – auch in den politischen Gesprächen mit Merkel. Und: Es ist schwieriger geworden, Menschenrechtsfragen anzusprechen.

So bewegt sich Merkel in diesen Tagen auf zwei Ebenen. Politisch gesehen ist die Kanzlerin für die Chinesen zwar eine wichtige Ansprechpartnerin – aber eben auch nur eine unter vielen. Für Deutschland wiederum ist China als politischer Partner eher wichtiger geworden, Merkel sucht auch Unterstützung in internationalen Fragen. Der Bundesregierung ist wichtig, dass China wie angekündigt im Atomabkommen mit dem Iran bleibt und sich nicht dem Vorbild der USA anschließt, die die Vereinbarung gerade gekündigt haben. China ist der größte Ölabnehmer des Irans und hat allein deswegen schon Einfluss auf das Regime in Teheran.

"Chinas Tür steht offen"

Wirtschaftlich dagegen gilt Deutschland in China immer noch als einflussreich und stark. 5.200 deutsche Firmen sind in China tätig, insgesamt 76 Milliarden Euro betrugen die deutschen Investitionen im vergangenen Jahr. Aber auch hier verschieben sich die Kräfteverhältnisse. Chinas aggressive Industriepolitik zielt darauf ab, bis zum Jahr 2025 in zehn Wirtschaftsbereichen zum Weltmarktführer aufzusteigen. Dazu kauft China auch Unternehmen im Ausland auf, vorwiegend in den als strategisch wichtig identifizierten Branchen. Öffentlich spricht die Staatsführung zwar von Freihandel und Multilateralismus – aber tatsächlich beschränkt sich die Bereitschaft zur Marktöffnung immer nur auf jene Bereiche, die dem Land aus Sicht der kommunistischen Führung gerade nutzen. Deutsche Unternehmen, die in China investieren, werden zum Teil gezwungen, mit chinesischen Partnern zu kooperieren. Technologien werden kopiert. Und im vertraulichen Gespräch erzählen deutsche Regierungsbeamte von der Furcht vieler Unternehmer, sie könnten aus dem chinesischen Markt wieder herausgedrängt zu werden, sobald China die Produkte dieser Firmen erst verstanden und kopiert habe.

"Wir wissen, dass China mehr Investitionen in Deutschland tätigen will, und ich will ausdrücklich darauf hinweisen, dass uns das recht ist", sagt Merkel in Peking. "Wir freuen uns aber auch auf die Ankündigung der Öffnung für Investoren in einigen Bereichen, und ich denke, deutsche Unternehmen werden von dieser Möglichkeit Gebrauch machen."

"Unsere Probleme sind nicht unüberwindbar", sagt Li. "Chinas Tür steht offen."

Am Donnerstag kam Merkel auch eine Stunde mit Kulturschaffenden und Intellektuellen zusammen, um über die Lage der Menschenrechte im Land zu sprechen. Überschattet wurde Merkels Reise vom Hausarrest der Dichterin Liu Xia, der Witwe des verstorbenen Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo. Vor allem deutsche und US-Diplomaten in Peking versuchen seit Längerem, ihr die Ausreise zu ermöglichen – bislang ohne Erfolg. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International hatten vor Merkels Besuch an Staatschef Xi Jinping appelliert, Liu frei zu lassen. Medienberichten zufolge war Liu kurz vor Merkels Besuch aus der Stadt gebracht worden.

Am morgigen Freitag fliegt Merkel von Peking aus in die ehemalige Sonderwirtschaftszone Shenzhen. Dort ist der chinesische Boom noch einmal ganz anders zu erleben – die Lokalregierung investiert gezielt in Zukunftstechnologien, vor allem für autonomes und vernetztes Fahren, sowie in den Ausbau eines 5G-Mobilfunknetzes zur Gesichtserkennung. Shenzen ist die erste Stadt in China, in der eine lückenlose Erfassung und Verfolgung von Fahrzeugen und Personen per Videokamera aufgebaut wurde. Die Kanzlerin wird dort ein chinesisches Biotechnologie-Start-up besuchen.

Auch das hat sich seit Merkels erster Reise nach China verändert: Damals ging es um Patentschutz und die Furcht vor dem Patentklau durch chinesische Firmen. Heute überschwemmt China den Markt mit eigenen Patenten.