Wenige Wochen vor dem Nato-Gipfel zum 70-jährigen Jubiläum der Allianz hat Frankreichs Präsident Emmanuel Macron das Verteidigungsbündnis in Frage gestellt. "Was wir derzeit erleben, ist der Hirntod der Nato", sagte er in einem Interview mit dem britischen Wirtschaftsmagazin Economist, das nach Angaben des Magazins bereits Ende Oktober geführt, aber jetzt erst veröffentlicht wurde.

Anlass für die Einschätzung ist zum einen die Offensive der Türkei in Nordsyrien, die von Nato-Verbündeten kritisiert wird. Die Regierung in Ankara zeige ein "unkoordiniertes, aggressives" Vorgehen in einem Bereich, in dem die Sicherheitsinteressen aller berührt seien, sagte Macron und bezweifelte, dass die Grundidee der Nato noch Bestand hat: Es sei fraglich, ob ein Angriff auf ein Nato-Mitglied auch heute noch als Angriff auf alle betrachtet würde.

Die Äußerungen sind zum anderen auch eine Reaktion auf die Präsidentschaft von Donald Trump. "Wir finden uns erstmals einem amerikanischen Präsidenten gegenüber, der unsere Idee des europäischen Projekts nicht teilt", sagte Macron. Europa könne sich nicht mehr auf die USA verlassen. So funktioniere die Zusammenarbeit auf der operativen Ebene zwar gut. Aber es gebe "keinerlei Koordination bei strategischen Entscheidungen zwischen den USA und ihren Nato-Verbündeten".

Die Nato müsse im Lichte dieser Entwicklungen neu bewertet werden, forderte Frankreichs Präsident insbesondere mit Blick auf die europäischen Bündnispartner. So hätten die internationale Sicherheitslage und die aufstrebende Macht China zu einer "außergewöhnlichen Schwäche Europas" geführt, sagte Macron. Nun müsse Europa aufwachen, seine militärische Souveränität wiedererlangen, sich mehr um seine eigene Verteidigung kümmern. Anderenfalls laufe es Gefahr, nicht mehr selbst über sein Schicksal bestimmen zu können. "Wenn Europa sich nicht als Weltmacht sehen kann, wird es verschwinden."

Merkel widerspricht Macron

Diesen Aussagen widersprach Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). "Ich glaube ein solcher Rundumschlag ist nicht nötig, auch wenn wir Probleme haben, auch wenn wir uns zusammenraufen müssen", sagte sie nach einem Treffen mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg in Berlin. Die drastischen Worte des französischen Präsidenten seien nicht ihre Sicht der Kooperation. Ihrer Ansicht nach gebe es viele Bereiche, in denen die Allianz gut arbeite.

Stoltenberg schloss sich der Sichtweise der Kanzlerin an. "Die Nato ist stark", sagte er während einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Merkel. Bei einer vorherigen Veranstaltung der Körber-Stiftung sagte der Nato-General: "Die Vereinigten Staaten lassen Europa nicht im Stich, ganz im Gegenteil. Sie investieren in die Sicherheit Europas, mit mehr Truppen, Infrastruktur und Übungen." Er unterschätze die Probleme nicht, sagte Stoltenberg. "Aber wenn es um die eigentliche Aufgabe der Nato geht, nämlich die kollektive Verteidigung, dann liefern wir mehr Inhalte und Substanz, als wir in den letzten Jahren geliefert haben."

Der Besuch des Generalsekretärs in Berlin dient auch der Vorbereitung für den kommenden Gipfel der Allianz am 3. und 4. Dezember in London.

Stoltenberg erinnerte die Mitglieder und insbesondere die Bundesregierung daran, ihre Verteidigungsausgaben wie vereinbart zu erhöhen. "Ich erwarte, dass alle Bündnispartner ihren Verpflichtungen gerecht werden", sagte er bei der Körber-Veranstaltung. Dies liege "im Interesse Deutschlands" und geschehe nicht, um ihm oder den Vereinigten Staaten einen Gefallen zu tun.

US-Präsident Donald Trump wirft Deutschland seit Langem vor, nicht genug Geld für Verteidigung auszugeben und so seine Nato-Partner, allen voran die USA, zu hintergehen. Dieser Lesart schloss sich Stoltenberg an – betonte aber zugleich Deutschlands führende Rolle in dem Verteidigungsbündnis. "Deutschland hat sich über viele Jahrzehnte hinweg als zuverlässiger Verbündeter erwiesen", sagte er. Deutschland brauche eine starke Nato. "Und wir brauchen ein starkes Deutschland im Mittelpunkt der Nato und der europäischen Sicherheit."