Dieser Text gehört zu unserer Reportageserie Überland. Sieben Lokalreporter berichten für ZEIT ONLINE aus ihrer Region. Die Serie ist Teil unseres Pop-up-Ressorts #D17 , in dem wir Deutschland Deutschland erklären wollen.

Wie eine Dunstglocke hängen die Wolken an diesem Tag über Sumte. Es regnet. Christian Fabel schlägt den Jackenkragen hoch, springt aus dem Wagen und eilt unter das Vordach der ehemaligen Flüchtlingsunterkunft, dem früheren Gebäudekomplex eines Inkassounternehmens. Dort steht er nun, wie damals, als er im November 2015 fast täglich hier stand und mit Journalisten sprach. Damals, als Sumte berühmt war.

Sieben Flüchtlinge auf jeden Einwohner – diese Nachricht hatte vor zwei Jahren die Weltöffentlichkeit in das abgeschiedene Dorf im Landkreis Lüneburg gebracht. Al-Dschasira berichtete, die New York Times schickte Reporter, TV-Teams aus England, Russland und China bauten ihre Kameras auf. 750 Menschen aus 14 Nationen sollten am Rand einer Gemeinde leben, die von Landflucht und Perspektivlosigkeit geprägt ist. Manche Medien berichteten eher staunend, andere nutzten Sumte für ihre Propaganda gegen Angela Merkel. Aber alle erwarteten eine Katastrophe.

Fast alles wie zuvor

Doch die blieb aus. Es gab keine Massenproteste, niemand zündete das Heim an, keine Jungmänner marodierten durch die Straßen. Ein Jahr lang lebten die Flüchtlinge hier, dann verschwanden sie. Seit einem Jahr ist man in Sumte nun wieder unter sich: 102 Einwohner, unter ihnen kein einziger Flüchtling. Und alles ist wie vorher. Fast.

Ortsvorsteher Christian Fabel (CDU) © Andreas Tamme

Fabel, Schnauzbart, gestreiftes Hemd, CDU-Mitglied und Unternehmer, war Ortsvorsteher, als im Oktober 2015 der Anruf kam, an den sich so viele Bürgermeister bis heute lebhaft erinnern. Der 57-Jährige will im Nachhinein nicht so tun, als hätte es keine Probleme gegeben. Er sei erschrocken gewesen. "Niemand wusste, wie das funktionieren sollte. Aber die Menschen brauchten ein Dach über dem Kopf."

Fabel saß anfangs täglich, später jede Woche mit dem Leitungsteam der Flüchtlingsunterkunft an einem Tisch, er sagte, was geht und was nicht geht. Wenn die Rechten anriefen, legte Fabel auf. "Mit denen wollten wir hier nichts zu tun haben." Das sagte Fabel auch bei Versammlungen, beim Feuerwehrfest, in der Kneipe. "Mancher mag anders gedacht haben, offen aufgetreten ist damit keiner." Nur im Internet gab es Gerüchte, von Diebstählen der Flüchtlinge im Supermarkt, von Schlägereien, von der Überforderung der Behörden.

Es ist nicht weit von der ehemaligen Notunterkunft bis ins Dorfinnere, wenige Hundert Meter nur. Man läuft an stattlichen Bauernhäusern, Pferdeweiden und großen Gärten vorbei, in einigen scharren Hühner hinter zerschnittenem Grenzzaun. Bis 1989 gehörte Sumte zum DDR-Grenzsperrgebiet, die innerdeutsche Grenze verlief nur wenige Kilometer entfernt am Flussufer. Wer hier lebte, stand unter ständiger Beobachtung. Und wer dem Regime unliebsam wurde, musste die Zwangsumsiedlung fürchten. Jeder im Ort kannte jemanden, den es getroffen hatte. Also hielt man sich an die Regeln, um nicht auch über Nacht Haus und Hof zu verlieren.   

Dann kam die Wende, dreieinhalb Jahre später die Rückgliederung. Per Staatsvertrag beschlossen die Länder Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern, dass die Gemeinde künftig wieder zum Landkreis Lüneburg auf der anderen Elbseite gehört. Genau wie vor 1945.