Wenn man in diesen Tagen mit Politikern spricht, macht man eine seltsame Beobachtung. Diejenigen, die berufsmäßig Stimmungen erspüren, werden aus der Stimmung selbst nicht schlau. Die Gefühlslage im Land beschreiben sie als volatil und trotzdem statisch, als rastlos und zugleich träge. Ganz so, als gäbe es da noch eine Mehrheit, die sich bislang nicht artikuliert.

In der vergangenen Woche hat sich jene schweigende Mehrheit einmal zu Wort gemeldet, und zwar mit einem Schulterzucken. Auf die Frage, wen von den drei Kandidaten sie am liebsten als nächsten Kanzler hätten, antworteten 45 Prozent mit "keinen davon". Diese Ratlosigkeit hat naturgemäß viele Gründe, ein wichtiger liegt allerdings in der unausgesprochenen Gemeinsamkeit der drei Kandidaten. Sie alle verlangen ihrer jeweiligen Partei nichts ab, sie muten ihr nichts zu. Mehr noch: Sie verkörpern auf sehr reibungsarme Weise die Milieus und Mentalitäten, die sie vertreten.

Der Olaf Scholz des Jahres 2021 – der von den dreien im Übrigen noch der Beliebteste ist – ist so gemäßigt ökologisch, moderat keynesianisch und behutsam reformistisch, wie es die SPD schon immer war. Armin Laschet wiederum personifiziert auf fast schon beängstigend gekonnte Weise das christdemokratische Denken, das seine Richtung im Ausgleich findet, die Prinzipien im Proporz und sein Ziel im Machterhalt. Und Annalena Baerbock vertritt mittlerweile immer stärker jene klassisch grüne Mischung aus Linksliberalität und identitätspolitischem Reformeifer, die sich zuletzt in der Forderung ausdrückte, Gesetzestexte künftig gendern zu wollen (schade, dass die kein Mensch liest).

Söder und Habeck verfügen über ein intuitives Gespür für Mehrheiten

Sie alle agieren so, wie man es von einem Sozialdemokraten, einem Unionspolitiker, einer Grünen erwartet, was für ihre Parteien durchaus behaglich ist, aber diesen Wahlkampf zugleich so funktionärshaft und scholzomatisch wirken lässt. So überzeugt man Überzeugte und motiviert bestenfalls jene, die dafür bezahlt werden. Energie entsteht in der Politik aber nur durch das Unerwartete. Und politische Führung beweist sich erst dadurch, dass jemand bereit ist, auch im Konflikt mit dem eigenen Lager zu agieren. Parteien repräsentieren, wie der Name schon sagt, bloß Teile der Gesellschaft. Mehrheiten findet man nur jenseits ihrer Grenzen, und wer in der Bevölkerung beliebt sein will, der ist es nur selten an der eigenen Basis.

Bundestagswahl 2021 - Olaf Scholz im Kanzlerkandidatencheck Arbeitsminister, Finanzminister, Vizekanzler – Bundeskanzler? In Wahlumfragen liegt die SPD um Spitzenkandidat Olaf Scholz vorn. Wer er ist und wofür er steht, im Video.

An den Kanzlern kann man dieses Gesetz gut erkennen. Merkel, Schröder, Schmidt – sie alle waren für ihre Parteien echte Zumutungen, sie trafen (vom Nato-Doppelbeschluss bis zur Flüchtlingspolitik) Entscheidungen, die ihre eigenen Leute unter Stress setzten, doch erwarben sie sich im Rest der Gesellschaft gerade dadurch Respekt.

Auch aktuell gibt es zwei Politiker, die diesem Prinzip der Zumutung folgen. Markus Söder stellt beinahe täglich die Jetzt-mal-halblang-Orthodoxie der Union infrage. Er fordert Frauenquoten für seine Partei, ökologische Reformen für das Land und leidet erkennbar an dem blutarmen und damit ganz unionstypischen Wahlkampf, den sein "lieber Freund Armin" seit Monaten führt. Robert Habeck wiederum hat seine Partei schon vor Jahren mit Debatten über ungrüne Begriffe wie Heimat und Patriotismus genervt und provozierend ergebnisoffen über Gentechnik geredet. Er hat die Grünen für ihr institutionalisiertes Besserwissertum kritisiert und ihnen stattdessen Demut verordnet. Auch in diesen Tagen ist er derjenige, der die klarsten Worte für die Fehler der Grünen-Kampagne findet.

In Parteien gilt ein solches Verhalten rasch als illoyal und in den Medien als eitel. Nun mag Ersteres tatsächlich eine Gefahr sein und das Zweite vielleicht ein Grund, doch erklärt Politik hier mehr als Psychologie: Söder und Habeck verfügen über ein intuitives Gespür für gesellschaftliche Mehrheiten, ebenso wie für die blinden Flecke ihrer eigenen Lager. Durch ihren Widerspruch, ihr Drängen und Fordern erzeugen sie jene Dynamik, die dem Wahlkampf derzeit fehlt.

Im aktuellen Beliebtheitsranking des Politbarometers belegen sie die Plätze zwei und vier, Laschet und Baerbock teilen sich die letzten Plätze. Im Umkehrschluss bedeutet dies: Wäre nächsten Sonntag Bundestagswahl, würden Union und Grüne nicht wegen, sondern trotz ihrer Kanzlerkandidaten gewählt. Die beiden beliebtesten Politiker indes stehen nicht zur Wahl. Das ist ein Zustand, der sich kaum noch sieben Wochen durchhalten lässt. Entweder also, Laschet und Baerbock treten aus ihren Funktionärskostümen und wagen was. Oder aber Söder und Habeck werden zu heimlichen Spitzenkandidaten. Beides wäre interessant.