Neulich im Radio ist es wieder passiert. In einer Talksendung von Bayern 2 zum Thema #MeToo ging es um die Frage, warum so wenige Frauen sexuellen Missbrauch zur Anzeige bringen. Ein Anrufer wurde zugeschaltet, offenbar ein ehemaliger Richter. "Es liegt an der Führung der Strafprozesse in Deutschland", sagte der Mann, das beste Beispiel sei der Fall Kachelmann. "Herr Kachelmann konnte sich – wie jeder Straftäter – im Prozess genüsslich zurücklehnen, beschützt von seinen Anwälten." Das vermeintliche Opfer hingegen sei den "unmöglichsten Fragen des Gerichts ausgesetzt" gewesen.

Der Moderator widersprach ihm nicht. Er sagte nicht, dass der Fall Kachelmann nicht für diesen Vergleich taugt, dass Jörg Kachelmann kein Straftäter ist. Dass er im Mai 2011 von einem Landgericht freigesprochen wurde. Dass ein Zivilprozess im vergangenen Herbst ganz eindeutig ergab: Claudia D. hatte sich die Verletzungen selbst zugefügt und Kachelmann mit krimineller Energie verleumdet.

Auf Nachfrage bedauert der Moderator, nicht unmittelbar auf den Freispruch hingewiesen zu haben, der ihm natürlich bekannt gewesen sei. Und so ist das Radiogespräch ein weiteres Beispiel dafür, wie schwer der Weg ist, den Kachelmann gerade geht. Der Weg, der nur ein Ziel hat: seinen Ruf wiederherzustellen.

Webcam-Videos statt Tagesthemen

Wenn man den 59-Jährigen zu Hause in der Schweiz besucht, dann kann es sein, dass er mitten im Gespräch aufspringt: "Muss kurz ein Video machen!" Er stellt dann eine Webcam in den Garten, baut sich im hochgekrempelten Hemd davor auf und erzählt eine Viertelstunde was übers Wetter. Den Clip schickt er nach Hamburg in die Redaktion der digitalen Tageszeitung Spiegel Daily. Geld bekommt er nach eigenen Angaben dafür nicht, aber immerhin die Hoffnung auf Aufmerksamkeit und ein besseres Image.

Der ehemalige ARD-Wettermoderator war früher ein echter Liebling der Deutschen, ein lustiger, unbeschwerter Typ. Doch dann wurde er 2010 verhaftet, seine Ex-Geliebte hatte ihn wegen Vergewaltigung angezeigt und er blieb mehr als vier Monate in Untersuchungshaft. Schon vor Prozessbeginn gelangten Verfahrensakten an die Presse, monatelang spekulierten Journalisten über ein vermeintliches "Tatmesser", einen "Tatort", DNA-Spuren. Kachelmanns Privatleben wurde zum öffentlichen Gut, etwa, dass er zahlreiche Geliebte gehabt haben soll – alles unter dem Vorwand der "Tataufklärung".

Im Prozess verstrickte sich Claudia D. in Widersprüche, kein rechtsmedizinisches Gutachten bestätigte eine Vergewaltigung. Doch für die Mannheimer Staatsanwaltschaft stand Kachelmanns Schuld trotz der dünnen Beweislage bis zum Ende fest. Im Mai 2011 verkündete das Landgericht Mannheim seinen Freispruch. Doch in der Urteilsbegründing traten die Richter nach: "Der heutige Freispruch beruht nicht darauf, dass die Kammer von der Unschuld von Herrn Kachelmann (...) überzeugt ist." Die mediale Wirkung blieb nicht aus: Bild titelte am Tag danach: "Freispruch, aber."

"Kein Mitglied der Justiz korrigiert sich gern"

Immer wieder sorgten Justiz und Medien anschließend dafür, dass die Zweifel an Kachelmanns Unschuld am Leben gehalten wurden. So sagte etwa der Sprecher der Mannheimer Staatsanwaltschaft nach dem Freispruch in eine Fernsehkamera: "Das Gericht hat ganz klar betont: Die These der Verteidigung, dass die Nebenklägerin alles erfunden hat, um Herrn Kachelmann fertig zu machen, hat sich genauso wenig nachweisen lassen." Dabei war diese Behauptung falsch. Genau diese These hätte sich nachweisen lassen, wenn das Gericht es gewollt hätte.

"Kein Mitglied der Justiz gibt gerne zu, dass es Fehler gemacht hat", sagt der ehemalige Richter Heinrich Gehrke. "Weder ein Staatsanwalt noch ein Richter korrigieren sich gern." Der Strafrechtler war jahrelang am Landgericht Frankfurt mit Prozessen befasst, die unter besonderer Beobachtung der Öffentlichkeit standen. Er regt sich noch heute auf über das Versagen der Justiz im Fall Kachelmann. "Gegen so einen vergifteten Freispruch kann man als Betroffener nichts machen", sagt er. "Gegen eine Verurteilung kann man Rechtsmittel einlegen – aber gegen einen Freispruch?"

Kachelmann blieb so nur die Möglichkeit, die Lüge selbst aus der Welt zu schaffen. "Alle haben mir geraten: Jetzt musst du Ruhe geben, sei doch froh", sagt er. "Das war für mich kein gangbarer Weg, ich wollte kämpfen." Er verklagte zahlreiche Medien, die falsch berichteten oder seine Privatsphäre verletzten; wehrte sich auch gegen Privatleute, die ihn in sozialen Medien als "Vergewaltiger" oder "Frauenhasser" beleidigten. Ein Gericht sprach ihm schließlich die außergewöhnlich hohe Entschädigungssumme von 395.000 Euro zu, weil Artikel in Bild, Bild am Sonntag und auf bild.de seine Persönlichkeitsrechte verletzt hatten. Noch ist das Urteil nicht rechtskräftig, der Springer Verlag hat Beschwerde beim Bundesgerichtshof eingelegt.