Branko Milanović ist ein serbisch-US-amerikanischer Ökonom. In der Ungleichheitsforschung ist er einer der renommiertesten Forscher. Mehr als 40 Studien und zahlreiche Bücher widmete er dem Thema Ungleichheit und Armut. Für "Die ungleiche Welt – Migration, das Eine Prozent und die Zukunft der Mittelschicht" wird er am Montag in Berlin ausgezeichnet. Milanović arbeitete für die Weltbank und lehrt heute an der City University of New York. Er betreibt den Blog "Global Inequality".

ZEIT ONLINE: Herr Milanović, die Wirtschaft boomt, aber die etablierten Parteien verlieren an Zustimmung. Wie passt das zusammen?

Branko Milanović: Es profitieren längst nicht alle von diesem Boom. In den meisten Industrienationen sind die Einkommen der unteren Hälfte der Bevölkerung in den vergangenen Jahren kaum gestiegen, jedenfalls deutlich weniger als die Einkommen der oberen zehn Prozent. Das gilt auch für Deutschland.

ZEIT ONLINE: Woran liegt das?

Milanović: Es deutet einiges darauf hin, dass die Globalisierung für diese Entwicklung mitverantwortlich ist. Ein Beispiel: Die meisten Ökonomen sagen, Freihandel schafft Wohlstand, deshalb bitte mehr davon. Das ist auch nicht falsch. Wenn zwei Länder Handel treiben, dann stellen sich diese beiden Länder dadurch in aller Regel besser, ihr Wohlstand nimmt zu. Aber ein großer Teil dieses Wohlstands kommt bei denjenigen an, die ohnehin schon wohlhabend sind. Dagegen gehen viele Menschen mit geringem Einkommen leer aus. Wir wissen aus Studien, dass viele amerikanische Industriearbeiter ihre Jobs verloren haben, weil chinesische Industriearbeiter dieselbe Tätigkeit günstiger verrichten konnten.

ZEIT ONLINE: Also ist die Globalisierung ein Irrweg der Geschichte?

Milanović: Das kommt auf die Perspektive an. Für die Menschheit insgesamt ist die Globalisierung eine Erfolgsgeschichte. Sie hat den Lebensstandard von Millionen von Arbeitnehmern in Ländern wie China und Indien verbessert. In diesen Ländern ist eine neue Mittelschicht entstanden – womöglich auf Kosten der Mittelschicht in den alten Industrienationen. Man könnte sogar argumentieren, dass die Welt ein Stück gerechter geworden ist. Ein Beispiel: In Italien ist die Aufregung gerade groß, weil ein Hersteller von Kühlschränken und Waschmaschinen die Produktion in die Slowakei verlagern will. Es stehen Arbeitsplätze auf dem Spiel. Aber Italien ist ein reiches Land – was ist eigentlich dagegen einzuwenden, dass ein Teil der italienischen Arbeitsplätze in ein Land verlagert wird, in dem es den Menschen schlechter geht?

ZEIT ONLINE: Die italienischen Arbeitnehmer würden sagen: Wir sind nicht für das Wohlergehen der Slowaken verantwortlich.

Milanović: In der politischen Praxis ist in der Regel der Nationalstaat der Referenzpunkt für den Gerechtigkeitsdiskurs. Vielleicht entwickeln wir irgendwann eine globale Identität, aber noch ist das nicht in Sicht. Das ändert aber nichts daran, dass wir in eine neue Phase der Globalisierung eingetreten sind.

ZEIT ONLINE: Erst hat der Norden den Süden ausgebeutet und jetzt ist es umgekehrt?

Milanović: Sagen wir so: Die Globalisierung wurde ursprünglich vom Norden vorangetrieben, der neue Märkte erschließen und sich den Zugriff auf Rohstoffe sichern wollte. Jetzt setzen sich vor allem die asiatischen Staaten für offene Märkte ein, weil sie sich ihrerseits davon Vorteile versprechen. In Vietnam halten Umfragen zufolge 91 Prozent der Bevölkerung die Globalisierung für eine gute Sache, in Frankreich sind es nur 37 Prozent.

Ungleichheit - Gehöre ich zu den Armen oder den Reichen der Gesellschaft? ZEIT-Redakteur Kolja Rudzio erklärt, wie sich das Nettoeinkommen errechnet und ab wann jemand – dem sozioökonomischen Panel zufolge – zu den Reichen zählt.

ZEIT ONLINE: Wie lässt sich das Problem lösen?

Milanović: Im Prinzip ganz einfach: Da die Globalisierung alle beteiligten Länder insgesamt reicher macht, müsste man den Globalisierungsgewinnern in den jeweiligen Ländern einen Teil ihrer Profite nehmen und diese den Globalisierungsverlierern geben. Tatsächlich geschieht eher das Gegenteil: Die Steuern für die Spitzenverdiener wurden in vielen Ländern sogar gesenkt. In den USA hat Donald Trump eine der größten Steuerreformen der letzten Jahrzehnte auf den Weg gebracht. Es profitieren davon vor allem die Superreichen. Der Staat hat den durch die Globalisierung aufgerissenen gesellschaftlichen Graben also noch vertieft.

ZEIT ONLINE: Die politische Linke ist fast überall in der Krise. Ein Vorbild, an dem sich nun auch in Deutschland einige orientieren, ist der Vorsitzende der britischen Labour Party, Jeremy Corbyn. Halten Sie das für sinnvoll?

Milanović: Corbyn wird oft als linker Populist bezeichnet. Er ist aber kein Populist, sondern steht für eine Politik, wie sie Labour in den Sechziger- oder Siebzigerjahren vertreten hat – und er scheint damit zumindest politisch Erfolg zu haben.

ZEIT ONLINE: Würde sein Programm dazu beitragen, die Spaltung der Gesellschaft zu überwinden?

Milanović: Ich glaube nicht, dass sich die Politik der Sechzigerjahre einfach so auf unsere Zeit übertragen lässt. Damals wurde der internationale Kapitalverkehr streng kontrolliert, die Wechselkurse waren fixiert, es war auch noch nicht so leicht, Teile der Produktion ins Ausland zu verlegen. Dadurch waren die Handlungsspielräume für die nationale Politik größer. Wir leben heute in einer völlig anderen Welt. Aber klar scheint mir: Der Staat muss mehr Geld in die Hand nehmen, für Bildung, für die Sozialsysteme, und wir brauchen höhere Steuern auf Erbschaften, um der zunehmenden Konzentration der Vermögen etwas entgegenzusetzen. Wenn sehr wenige sehr viel haben, dann ist das eine Gefahr für die Demokratie.

ZEIT ONLINE: Es gibt eine Alternative: Sie bestünde darin, die Globalisierung zurückzudrehen, wie Trump das mit den Importzöllen versucht.

Milanović: So etwas haben die Briten gerade vor. Sie suchen nach einem Weg, den europäischen Binnenmarkt zu verlassen, ohne ihre Wirtschaft zu ruinieren. Mein Eindruck ist: Sie sind dabei nicht sehr erfolgreich, weil die Volkswirtschaften zu eng miteinander verwoben sind. Ein ähnliches Schicksal würde den USA drohen, wenn Trump tatsächlich die nordamerikanische Freihandelszone verlassen wollte oder wirklich die Grenzen dicht macht.