Die russische Kultur folgt seit Jahrhunderten einem immer gleichen Muster. Die Russen feiern, bauen pompöse Stadien und prächtige Gebäude, sie haben gelernt, mit der Korruption zu leben und passen sich langsam an die Sanktionen an. Ob in der Sowjetunion oder im heutigen Russland: Die Menschen tun so, als ob es dem Land gut ginge, als sei alles auf einem besseren Weg. In Wirklichkeit aber ändert sich nichts.

Ich bin in Belarus geboren worden, damals noch Teil der Sowjetunion. In den vergangenen 25 Jahren habe ich in Deutschland, den USA, Russland, der Ukraine und Brasilien studiert und gearbeitet, und das hat mir eine besondere Perspektive auf meine Heimat beschert. Wie ein Elternteil, der sich um die unausweichlichen Krankheiten seines Kindes sorgt, blicke ich auf Russland. Ich glaube fest daran, dass diese Krankheiten eines Tages überwunden sein werden – ich warte entschlossen und kann diesen Tag kaum abwarten.

Das russische Lebensmodell, so scheint mir, besteht darin, die eigenen Leute bei Laune, sie beschäftigt zu halten, um ihnen das Gefühl zu vermitteln, sie seien Teil eines großen und wichtigen Prozesses, eines Marsches nach vorn. Es geht dabei nie darum, wohin dieser Marsch führt. Der Prozess zählt, nicht das Resultat. Es geht um das Gefühl der Zusammengehörigkeit und der Einigkeit darüber, dass der Weg der einzig mögliche sei. Und sollte tatsächlich jemand einen anderen Weg vorschlagen, der anstrengend werden könnte und auf ein konkretes Ziel ausgerichtet wäre, einen Weg, der das Land verändern oder die Wirtschaft aufbauen würde, heißt es sofort: "Ach, das brauchen wir nicht, wir haben unseren 'russischen Weg'. Wir wissen genau, was wir tun müssen, um das Land in die Zukunft zu führen."

Schuld sind immer die anderen

Das ist eine Einstellung, die seit Jahrzehnten russische Politik beeinträchtigt, große Spannung in der russischen Gesellschaft erzeugt und Selbstbestimmungsprobleme mit sich bringt. Ein solches Verhaltensmuster erinnert mich an jenes in einer typisch russischen Familie, in der der Mann trinkt und die Frau hilflos zuschaut. Die beiden fristen ihr Dasein, die Tragödie und Hilflosigkeit sind programmiert, die Probleme allgegenwärtig.

Die Machtelite Russlands ähnelt dem schamlosen Alkoholiker, der seine gesamte Familie terrorisiert. Er manipuliert, lügt und gibt immer allen anderen die Schuld. Er lebt ausschließlich seine Bedürfnisse aus: versäuft das Monatsgehalt, leiht sich Geld beim Nachbarn und gibt es nie wieder zurück. Er stiehlt. Er pöbelt rum. Er macht sich selbst etwas vor.   

Wie jeder Säufer hat auch er manchmal das Gefühl, dass etwas nicht mit ihm stimmt, dass er dringend etwas ändern muss. Aber nüchtern zu bleiben, das erträgt er nicht. Sein Leben zu ändern ist zu mühsam und zu erschreckend – wozu auch?

Die russische liberale Opposition erinnert in diesem Szenario an die Frau des Alkoholikers. Sie ist eine tüchtige Frau. Ihren Mann hat sie sofort nach dem Kennenlernen geheiratet, in der Hoffnung, dem Elternhaus zu entkommen und endlich ein neues Leben zu beginnen. Immerzu bemüht sie sich, ihn, den Alkoholiker, zu erziehen, und redet ihm ins Gewissen. In ihrem Herzen aber weiß sie längst, dass es sinnlos ist.

Das russische Volk, das weder Macht noch Opposition ist, erinnert an die erwachsenen Kinder dieser Familie. Für sie ist es am schwersten, auf sie wird entweder eingeredet oder sie werden ignoriert. Jeder versucht, sie auf seine Seite zu ziehen.