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EU-Verfahren Wie abhängig macht Tiktok?

Die App "TikTok" vom chinesischen Konzern ByteDance steht in der Kritik 
Die App "TikTok" vom chinesischen Konzern ByteDance steht in der Kritik 
© SOPA Images / Imago Images
In der EU fürchtet man, die neue Version der App namens "Tiktok lite" könne noch gefährlicher sein, noch süchtiger machen. Patrick Bach, der zur Medienabhängigkeit forscht, erklärt, warum.

Die EU kritisiert den mangelnden Jugendschutz von Tiktok schon seit Jahren genauso wie den chinesischen Mutterkonzern ByteDance. Ist Tiktok denn gefährlicher als Apps wie beispielsweise Instagram? Oder ist der Jugendschutz der EU vielmehr politisch motiviert?
Die politische Motivation kann ich nicht allumfassend beurteilen. Aber der "Rabbit-Hole-Effekt", von dem eine Suchtgefahr ausgeht, ist bei Tiktok stärker als bei anderen Apps. Zum einen, weil es sehr kurze Videos sind, die automatisch hintereinander abgespielt werden. Zum anderen führt der Algorithmus bei Tiktok dazu, dass die Inhalte besonders stark daran adaptieren, was die User gern sehen. Dadurch, dass die Videos sehr schnell aufeinander folgen, konsumieren User eher unbewusst, ohne über ihr Verhalten zu reflektieren. Es fällt ihnen schwerer, ihr Verhalten gut zu kontrollieren. Es entsteht ein Sog. Auch deswegen verbringen Menschen dort mehr Zeit als auf anderen Apps. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass Menschen komplett falsche Vorstellungen davon haben, wie viel Zeit sie auf Tiktok verbringen. Und, vereinfacht gesprochen: Je mehr Zeit dort verbracht wird, desto höher die Suchtgefahr.

"Tiktok lite" ist in der EU bisher in Frankreich und Spanien verfügbar. Wer mehrere Stunden Videos schaut oder Inhalte bewertet, kriegt digitale Münzen, die man wiederum in Gutscheine umwandeln kann, beispielsweise für Amazon.
Genau, dadurch werden alle Effekte, die Tiktok so gefährlich machen, nochmals verstärkt: Der User bleibt dran, weil er dadurch Geld verdienen kann. Gleichzeitig liked er mehr, weil er dafür bezahlt wird. Dadurch lernt das System noch besser, was der User mag. Es kann ihn noch effizienter bei der Stange halten. Nur: Das alles wiederum kann man Tiktok nicht vorwerfen. Genau darum geht es dem Hersteller ja, genau dadurch verdient er sein Geld.

© privat

Zur Person

Patrick Bach, 36 Jahre alt, leitet seit 2021 die Arbeitsgruppe Verhaltenssüchte am Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim. Ein Fokus seiner Arbeit liegt auf der Medienabhängigkeit. 

Die EU sieht in dieser neueren Version die "Gefahr schwerer Schäden für die psychische Gesundheit der Nutzenden". Sie nutzt drastische Worte. Zu recht?
Hier kommt es natürlich darauf an, was man als schwere Schäden definiert. Klar ist allerdings, dass durch die Nutzung von Tiktok abhängige Verhaltensmuster entstehen können, die eine starke psychische Belastung und schwere psychosoziale Folgen für Betroffene mit sich bringen können.

Was sind das für Folgen?
Weil man ständig das Handy in der Hand hat, schafft man es nicht mehr, den Verpflichtungen des Alltags nachzukommen. Bei Kindern fällt dadurch zum Beispiel das Leistungsniveau in der Schule ab, oder sie vernachlässigen soziale Aktivitäten, wie ihren Sportverein. 
Ist die Sucht sehr stark ausgeprägt, dann können die Betroffenen das Verhalten überhaupt nicht mehr kontrollieren. Sie haben einen hohen Leidensdruck. Sie nehmen das Handy dann zwar nicht mehr gern in die Hand, tun es aber trotzdem. Automatisch. Das kann zu einer Negativspirale führen: Sie fühlen sich schlecht, weil sie so viel auf Tiktok sind. Und verdrängen diese negativen Gefühle mit Tiktok. 

Man könnte das Konzept von "Tiktok lite" auch mit Lohnarbeit vergleichen. Leute werden dafür zu bezahlt, etwas zu tun. Könnte man, ganz naiv, darauf hoffen, dass die User dadurch den Spaß an der App verlieren? 
Ich fürchte nicht. Das Ganze scheint sehr organisch eingeflochten zu sein. Die App drängt den User nicht direkt, etwas zu tun, vielmehr zeigt sie ihm, dass er etwas zusätzlich bekommen kann. In der chinesischen Version wird sehr schlau suggeriert, dass man etwas erreichen kann – und davon immer mehr.

Patrick Bach: Sollten Tiktok nicht aus der Pflicht nehmen

Laut einer Studie der Medienanstalt NRW lösen 60 Prozent der Inhalte auf Tiktok Unwohlsein bei den Kindern aus. Warum setzen sie sich dann trotzdem diesen Videos aus?
Gerade bei Kindern und Jugendlichen muss man bedenken, dass es einen starken "Peer"-Effekt gibt, dass sich also Gleichaltrige gegenseitig stark beeinflussen. Die zeigen sich gegenseitig Videos und motivieren sich, auf der App aktiv zu sein.
Außerdem darf man nicht vergessen: Selbst, wenn 60 Prozent der Inhalte als nicht angenehm erlebt werden, sind es 40 Prozent trotzdem noch. 

Das heißt, Tiktok hebelt die Eigenverantwortung aus?
Sie wird zumindest stark kompromittiert. Das ist schon bei Erwachsenen mit einem ausgeformten Selbstbild problematisch. Nur haben Kinder und Jugendlichen das noch nicht. Wenn dann noch der Peer-Druck und der ausgefeilte Tiktok- Algorithmus hinzukommen, wird es gefährlich.

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Was wären aus Ihrer Sicht gute Maßnahmen, um die Gefahren der App einzuschränken?
Ich glaube nicht an ein komplettes Verbot. Auch, weil die Methoden dann früher oder später von anderen Anbietern übernommen werden. Da finden sich immer Wege. Neben einer Zugangsbeschränkung für sehr junge Altersgruppen, wäre es aus meiner Sicht schlau, Pausen verpflichtend einzuführen. Sagen wir, nach drei Videos würde kurz ein schwarzer Screen angezeigt: So könnte man dem User die Möglichkeit geben, bewusst zu reflektieren, ob er die nächsten Videos überhaupt sehen will. Der Sog könnte unterbrochen werden. Natürlich widerspricht das den Unternehmensinteressen. Nur finde ich, sollte man die Hersteller nicht einfach so aus der Pflicht nehmen.

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