Oft sind es Bagatellen, die Ernst Nonnenmacher in Schwierigkeiten bringen: Mal nimmt er ein fremdes Kleidungsstück von der Leine mit oder klettert durchs Kellerfenster, um Lebensmittel zu stehlen. Wenn jemand ihm blöde kommt, schlägt er auch mal zu, bis die Nase blutet. Es ist Anfang der 1930er Jahre und die wirtschaftliche Lage in Deutschland katastrophal, viele leiden Hunger. Ernst Nonnenmacher hangelt sich von einem Job zum nächsten, ein Landstreicher eben.

"Es ging für ihn damals ums nackte Überleben", sagt sein Neffe Frank Nonnenmacher. Der emeritierte Professor für Sozialwissenschaften und Politische Bildung sitzt an seinem Küchentisch in Frankfurt und erinnert sich an den Bruder seines Vaters. Sein Onkel sei kein schlechter Mensch gewesen, die Umstände hätten ihn vielmehr zum Straftäter gemacht. Die Nazis sahen das anders: Für sie war Ernst Nonnenmacher ein Krimineller, einer, der das Böse in den Genen hat. So einen "Gemeinschaftsfremden" wollte man nicht unter sich haben. 

Ernst Nonnenmacher, der mehrere Gefängnisstrafen abgesessen hat, wird nach seiner Entlassung erneut festgenommen und ohne Verfahren mit der Eisenbahn am 19. Mai 1941 ins Konzentrationslanger Flossenbürg gebracht. Während politische Gefangene im KZ einen roten Winkel auf der Brust tragen müssen und homosexuelle Männer einen rosafarbigen, bekommt er als sogenannter "Asozialer" ein schwarzes Stoffdreieck auf seine Häftlingskleidung und rutscht damit in der Hierarchie des Lagers nach ganz unten. Einige Wochen später erhält der 33-Jährige den grünen Winkel, er ist jetzt "Berufsverbrecher".

Es waren Obdachlose, Bettler, Prostituierte und Zuhälter

So wie Ernst Nonnenmacher werden zwischen 1933 und 1945 tausende Menschen Opfer einer willkürlichen Kategorisierung. Wer nicht den gewünschten Verhaltensweisen der Nationalsozialisten entspricht und von der gesellschaftlichen Norm abweicht, gerät ins Visier und wird verfolgt: Obdachlose, Bettler, Prostituierte und Zuhälter. Auch Frauen mit einer Abtreibung und Alkoholkranke rutschen in diese Gruppe. "Diese Menschen sollten radikal ausgemerzt werden", sagt Frank Nonnenmacher, der viele Jahre zu dem Thema geforscht hat.

Allein bei der Sonderaktion "Arbeitsscheu Reich" im Jahr 1938 werden mindestens 10.000 soziale Außenseiter von der Gestapo und Kriminalpolizei festgenommen und zur Zwangsarbeit gezwungen. Im KZ werden Inhaftierte mit grüner und schwarzer Markierung drangsaliert, müssen Schwerstarbeit leisten und sind zur "Vernichtung durch Arbeit" freigegeben. Viele "Asoziale" werden zwangssterilisiert, da sie in den Augen der Nazis minderwertige Erbanalagen haben – selbst wenn sie der Rassenideologie entsprechend durch ihre Geburt "deutschblütig" sind.

Trotz dieser Torturen sind die Überlebenden nie als Opfer der NS-Diktatur anerkannt worden, finanzielle Entschädigung gab es für sie keine. Die Wiedergutmachungspolitik der Bundesregierung berücksichtige sie nicht. Auch die Forschung hat die beiden Opfergruppen lange Zeit vernachlässigt, erst seit ein paar Jahren befasst sich eine Handvoll junger Wissenschaftler mit dem Thema. Keiner hat diese Menschen zu Lebzeiten aufgesucht, um ihre Biographien aufzuschreiben. Memoiren oder andere schriftliche Aufzeichnungen haben die Betroffen, die oft in prekären Verhältnissen lebten, kaum hinterlassen. Es heißt immer, die Deutschen hätte ihre Vergangenheit vorbildlich aufgearbeitet. Doch wie konnten so viele Schicksale in Vergessenheit geraten und von der Erinnerungskultur ausgeschlossen werden?