Alice Weidel redet sich in Rage. Die Fraktionschefin der AfD im Bundestag verdammt den Euro, die "teure, überstürzte, unsinnige Energiewende". Sie beklagt die angebliche Geldvernichtung durch die Zentralbank: "Diese Zinspolitik, die euer Vermögen beraubt, eure gesamten Sparanlagen", ruft die gelernte Ökonomin von einer Bühne auf dem Schlossplatz im Oranienburger Zentrum Hunderten AfD-Anhängern zu. Die Menge schweigt. Weidel kämpft um Applaus: Der Niedrigzins nehme den Bürgern das Geld, "von euch, von den Großeltern, von den Rentnern, von all den nachfolgenden Generationen, die überhaupt keine Vermögensbildung mehr bilden können", holpert sie weiter. Wieder Stille, nur der Lärm der Gegendemonstranten tönt von der anderen Straßenseite herüber. "Und jetzt kommen die Negativzinsen", versucht es Weidel weiter. "Wisst ihr eigentlich, was da los ist?" Und was machen CDU, SPD und Grüne dagegen? "Nichts." Eisernes Schweigen.

In der wohlhabenden Bodenseeregion, wo Weidel ihren Wahlkreis hat, wird viel vererbt. Hier in Brandenburg, im strukturschwachen, an Vermögen armen Osten, kann Weidel kaum einer folgen. Der Negativzins ist ihren Zuhörern egal.

Lebendig wird die Menge nur, wenn es gegen die Grünen geht, der Applaus wird frenetisch, wenn die Redner auf den Wahlkampfpodien "illegale Migration" anprangern. "Jawoll!", schallt es über den Platz in Oranienburg, als AfD-Spitzenkandidat Andreas Kalbitz eine "konsequente Abschiebekultur" fordert. Kalbitz gehört zum nationalistischen Flügel der AfD. Jüngst musste er bestätigen, dass er weit früher und öfter als bekannt persönlichen Kontakt zu Neonazis hatte. Am Mikrofon suggeriert er, Brandenburg stehe vor dem kulturellen Kollaps. Dabei hat hier, wie auch in Sachsen, nur jeder Zwanzigste keinen deutschen Pass

Zittau abbaggern für die Kohle?

Ein Mix aus Unzufriedenheit, dem Gefühl abgehängt zu sein, Angst vor sozialem Abstieg, gesellschaftlichem Wandel und Ausländerfeindlichkeit – all diese Gründe ließen die AfD vor den Landtagswahlen am Sonntag in Umfragen über 20 Prozent steigen. Schon zur Europawahl wurde die AfD in Brandenburg und Sachsen stärkste Kraft. Erfolgreich schüren ihre Strategen diese Gefühle, selbst bei Menschen, die zur wohlsituierten Mittelschicht gehören. Unverdrossen instrumentalisiert die Partei die Wende von 1989 für das Narrativ, die Bundesrepublik sei ein Unrechtsstaat wie die damals friedlich überwundene DDR.  

Aus der Nähe aber zeigen sich die Widersprüche und Leerstellen des Wahlkampfes, die der Jubel vor den Podien oft überdeckt. 

Zum Beispiel beim sächsischen AfD-Direktkandidaten Sebastian Wippel. Der gelernte Polizist und Verwaltungswirtschaftler ist in einem blauen Škoda herangerauscht, um den Helfern an seinem Wahlkampfmobil vor dem Netto-Markt in Reichenbach bei Görlitz einen Kurzbesuch abzustatten. Später erklärt er im nahen Gasthof Zum Mäusebunker den Besuchern das AfD-Wahlprogramm. Der 37-Jährige zieht Frauen an, fast die Hälfte des Publikums in dem rustikalen Schankraum ist weiblich – was atypisch ist bei der männerdominierten AfD. Wippel wäre Anfang des Jahres fast Oberbürgermeister von Görlitz geworden, sein CDU-Gegenspieler gewann nur, weil Grüne und Linke im zweiten Wahlgang ihre Kandidaten zurückzogen. Zur Landtagswahl konkurriert Wippel in der Hochschulstadt Görlitz um das Direktmandat mit Ministerpräsident Michael Kretschmer. Der CDU-Politiker hat hier schon einmal gegen die AfD verloren: Bei der Bundestagswahl 2017, als Wippels Parteikollege Tino Chrupalla ihn aus dem Bundestag verdrängte. Wippels Wahlergebnis wird entscheidend sein für Kretschmers politische Zukunft – eine Niederlage würde den Regierungschef innerparteilich schwächen.

Als Wippel im Mäusebunker zum Thema Energiewende kommt, verheddert er sich: "Der Kohleausstieg bricht uns das Genick", sagt er – in der Oberlausitz sollen in den kommenden Jahren zahlreiche Tagebaue und Kraftwerke schließen, was die AfD für falsch hält. Dann wird Wippel offenbar klar, dass Tagebaue auch Kulturlandschaft vernichten, was vielen Endfünfzigern hier in der fichtenvertäfelten Gaststube noch in schmerzlicher Erinnerung sein dürfte: Vor der Wende plante die DDR wegen der Braunkohle unter anderem den weitgehenden Abriss von der damaligen Kreisstadt Zittau, die Schmalspurbahn war schon stillgelegt, eine Kirche bereits gesprengt, im Zittauer Gebirge ragten die kahlen Stämme des durch Rauchgas abgestorbenen Waldes gespenstisch gen Himmel. Erst der Mauerfall stoppte die Bagger. Der Wald wurde aufgeforstet, die Kleinbahn rollt wieder. Auch in der Nachwendezeit mussten schon wieder Ortschaften der Kohle weichen. Und sollte der Kohleausstieg aufgeschoben werden, wie die AfD das wünscht, dürften weitere folgen. "Zittau wollen wir nicht abbaggern", korrigiert sich Wippel schnell. 

Das Festhalten der AfD an der Kohle hat eben auch seine Kehrseite. Der AfD-Wahlslogan "Die Wende vollenden" bekommt hier eine ganz neue Bedeutung. Die Vollendung des Kohleausstiegs. Auch Parteichef Jörg Meuthen versucht im Wahlkampf durch Lavieren, das Thema unfallfrei hinter sich zu bringen: Deutschland brauche einen "langsamen, überlegten, schrittweisen, sozial und durch Strukturwandel abgefederten, allmählichen" Kohleausstieg, sagt er. Mehr Einschränkung geht kaum.

Eigene Ideen? Fehlanzeige

30 Kilometer weiter, in Bautzen, sitzt Sachsens AfD-Spitzenkandidat Jörg Urban auf einem Podium im Haus der Sorben. Der 55-jährige Vater dreier Kinder hatte mal einen Chefposten bei der Grünen Liga Sachsen, heute ist er Landeschef der AfD. In dem hellen und hohen Saal verteilen sich 24 Besucher auf 80 Plätzen. Die Frage aus dem Publikum ist, was die AfD tun würde, um die Sprache und Kultur der sorbischen Minderheit zu fördern. Nun gilt Minderheiten nicht gerade das Hauptaugenmerk der AfD. Deutsch-sorbische Straßenschilder mit Schrift in gleicher Größe? Mehr sorbische Sprache im Alltag? Urban, der 2015 mal Oberbürgermeister der Sorbenstadt werden wollte, zeigt sich ahnungslos, aber für alles offen, äußert jedoch keinerlei eigene Ideen. "Wenn Bedarf ist, können wir gern im Landtag darüber sprechen", antwortet er. Guten Vorschlägen werde keiner im Weg stehen. Es entsteht der Eindruck, Urban wolle vermeiden, die Sorben als Minderheit aufzuwerten.