Wie es jetzt hinter den Brüsseler Kulissen zugeht, lässt sich nur erahnen. In den langen Fluren der Europäischen Kommission, wo Ursula von der Leyen seit über einem Jahr die Geschäfte führt, knistert es. Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides hat am Montagabend den Stand der Gespräche zwischen der EU-Kommission und dem britisch-schwedischen Impfhersteller AstraZeneca öffentlich gemacht. "Die heutigen Gespräche mit AstraZeneca endeten unbefriedigend mit einem Mangel an Klarheit und unzureichenden Erklärungen", schrieb Kyriakides auf Twitter. "Die EU-Mitgliedstaaten sind sich einig: Impfhersteller haben gesellschaftliche und vertragliche Verpflichtungen aufrechtzuhalten."

Das sehen viele so, doch Kritik wird auch an der EU-Kommission selbst laut. "Der Ärger ist berechtigt. Wenn ich einen Vertrag schließe, doch keinerlei Pflichten für den Hersteller entstehen, dafür aber umso mehr Pflichten für die EU-Kommission, dann ist das kein ausgewogener Vertrag", sagt etwa Markus Ferber (CSU), wirtschaftspolitischer Sprecher der größten EVP-Fraktion im Europa-Parlament.

EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen hat die europäische Impfstoffpolitik in den letzten Wochen und Monaten immer wieder zur Chefsache gemacht. Zeichnete die EU-Kommission einen neuen Vertrag mit einem Impfhersteller, trat von der Leyen regelmäßig vor die Presse, um ihn zu verkünden. Sorgte die Europäische Arzneimittelbehörde EMA für die ersten Zulassungen von Impfstoffen der Hersteller BioNTech/Pfizer und Moderna, ließ es sich die Kommissionspräsidentin nicht nehmen, auch diesen Fortschritt öffentlich mitzuteilen. Nun soll die EMA in dieser Woche eine dritte Zulassung für den AstraZeneca-Impfstoff erteilen. Doch von der Leyen wird das kaum in eine neue Fortschrittsbotschaft verpacken können. Zu viel Ärger gibt es jetzt um den Vertrag der EU-Kommission mit AstraZeneca. Und zu symptomatisch ist der Ärger für die gesamte Impfpolitik der EU. Sogar aus der ihr nahestehenden Fraktion im Europa-Parlament muss Kommissionschefin nun Kritik einstecken.

Andere finden noch drastischere Worte. "Das Bild verdunkelt sich. Niemand ist mit der gegenwärtigen Situation zufrieden", sagt Jutta Paulus, die gesundheitspolitische Expertin der Grünen in Brüssel. "Die Impfstoffhersteller spielen die EU gegen andere aus." Höchste Zeit also aus ihrer Sicht, dass mehr Klarheit geschaffen werde. "Macht die Bücher auf", fordert Paulus von EU-Kommission und Konzernen gleichermaßen. "Ihr seid vertragsbrüchig, wenn ihr nicht produziert habt. Ihr seid vertragsbrüchig, wenn ihr weiterhin woanders geliefert habt", lässt die grüne Politikerin auch ihren persönlichen Ärger über das Verhalten von AstraZeneca heraus. Aber hilft das noch?

Wurde Europa über den Tisch gezogen?

Dabei sah es noch vor wenigen Monaten nach einem großen Erfolg der europäischen Impfpolitik aus. Rechtzeitig, schon im vergangenen Sommer, hatten sich die EU-Mitgliedstaaten geeinigt, Impfstoffe nur gemeinsam zu fördern, zu bestellen und zu verteilen. Damit konnte die EU-Kommission im Auftrag aller 27 Mitgliedstaaten mit den Impfherstellern verhandeln – eine scheinbar starke Verhandlungsposition. Allerdings kritisierten viele Abgeordnete wie Ferber oder Paulus schon im Herbst den intransparenten Charakter der Verhandlungen. Dieser rächt sich heute. Denn was AstraZeneca der EU gerade zumutet, erklärt sich aus dem Kleingedruckten und weiteren Verträgen, die der britisch-schwedische Hersteller mit Ländern wie Großbritannien zeichnete. Offenbar hat das Vereinigte Königreich besser verhandelt.

"Nur weil es gut ist, als EU gemeinsam mit den Herstellern zu verhandeln, ist nicht jeder Vertrag gut, den die Kommission gezeichnet hat", sagt Ferber. Für ihn scheint klar, dass die Ankündigung von AstraZeneca vom vergangenen Freitag, in Zukunft weniger Impfdosen als im Vertrag vorgesehen an die EU zu liefern, aber die vertraglich versprochenen Mengen an Dosen für Großbritannien pünktlich abzugeben, schlicht wegen der unterschiedlichen Verträge zu erklären ist. Offenbar kann sich AstraZeneca die Absage an Europa leisten, ohne mit vertraglich vereinbarten Strafgeldern rechnen zu müssen, eine Absage an Großbritannien aber nicht. Und diese Regelung scheint sich der Konzern jetzt zunutze zu machen. "Nicht wer mehr bestellt, bekommt mehr Impfstoffe, sondern wer mehr bezahlt", sagt Ferber. Das gelte zudem auch für Lieferungen an Israel und die USA.

Zwangslizenzen als letztes Mittel

Für die EU-Kommission ist das ein Desaster. Immer wieder verwiesen ihre Sprecher schon seit vergangenem Herbst auf die notwendigerweise geheime Natur der Verhandlungen mit den Pharmakonzernen. Immer wieder lautete ihre Botschaft: Vertraut uns! Wir haben ein klares Mandat aller EU-Mitglieder und befinden uns gegenüber den Herstellern in einer Position der Stärke. Dabei schwang durchaus ein Stück europäische Ideologie mit: Gemeinsam sind wir allen anderen überlegen und lassen uns deshalb auf ein weltweites Wettrennen um die Impfstoffe nicht ein. Für Ferber eine ehrenwerte Position, die aber den europäischen Bürgern und Bürgerinnen gerade nicht weiterhilft. "In meinem Landkreis Augsburg waren gestern die 300 gelieferten Impfdosen in eineinhalb Stunden verimpft. Das wird bald überall in Europa so sein", klagt der Abgeordnete. Tatsächlich haben Länder wie Frankreich, die noch Anfang des Monats kaum geimpft hatten, inzwischen viel Rückstand gutgemacht, sodass die Impfmittelknappheit binnen Tagen zum europaweiten Phänomen zu werden droht.  

Da schmerzt es umso mehr, wenn sich nun herausstellt, dass zumindest ein Hersteller, AstraZeneca, die Kommission über den Tisch gezogen hat. Und warum sollte das den anderen Herstellern nicht auch gelungen sein?

Die Antwort der EU-Kommission ist: sich zu verbarrikadieren. In der Kommission kommt nun eine Art Festungsmentalität auf. Man rückt zusammen, schließt die Reihen, um es mit dem ausgemachten Gegner noch mal aufzunehmen. Schon denken einige an Zwangslizenzen für Impfstoffe. Damit sollen vertragsbrüchigen Impfherstellern, wie nun gegebenenfalls AstraZeneca, die Patentrechte auf ihre Impfstoffe entzogen und an andere Unternehmen weitergegeben werden. Die Doha-Erklärung der Welthandelsorganisation von 2001 macht das sogar möglich. Sie war ursprünglich für Gesundheitsnotstände in ärmeren Ländern des Südens gedacht und könnte nun auch für die EU in Anspruch genommen werden. Doch wie würde das auf andere Hersteller wirken? Pfizer-Chef Albert Bourla macht dieser Tage keinen Hehl daraus, dass das wirtschaftliche Umfeld für seinen Konzern in den USA besser sei als in Europa.  

Kommissionspräsidentin von der Leyen hat sich nun mit einer Videobotschaft für das Weltwirtschaftsforum in Davos an die Impfstoffhersteller gewandt und sie aufgefordert, ihre Pflichten zu erfüllen. Aber weitere Verträge oder Zulassungen als Erfolg zu deklarieren, so wie bisher, nimmt ihr keiner mehr ab. Und auf kurze Sicht wird sich am Gesamtbild der Impfstoffknappheit in der EU wenig ändern. An von der Leyen liegt es nun, eine neue, wirklichkeitsnahe Botschaft zum Impfen in der EU zu finden. Selbstkritisch, aber nicht defätistisch. Diese Botschaft aber hat Brüssel bisher nicht gefunden.