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Extra-Etat "Würde und Stolz" Mit Attrappen und Fototapeten: So liebevoll wird Dementen in Holland ihr vertrautes Leben inszeniert

Pflege: Dementen wird in Holland ihr vertrautes Leben inszeniert
Rudi ten Brink sitzt am Steuer, Annie Arendsen und Truus Ooms genießen die Landschaft, die an ihnen vorbeizieht – als Videoprojektion. Die niederländische Regierung hob die Pflegesätze an und bewilligte unter dem Motto "Dignity and Pride" – "Würde und Stolz" – einen Extra-Etat.
© Ilvy Njiokiktjien/NYT/Laif
Menschen mit Demenz haben es in Holland gut. Liebevoll wird ihr vertrautes Leben inszeniert. Vor allem aber achten die Betreuer ihre Würde.

"Seit wann leben Sie schon hier, Herr Klein?"

"Ooh ... schon sehr lange!"

"Gefällt es Ihnen?

"Sehr gut. Hier ist Frieden."

"Darf ich fragen, wie alt Sie sind?"

"Warum denn nicht? 45!"

"Sieht das da drüben so ähnlich aus wie Ihr Geschäft früher?"

Der freundliche alte Herr guckt zur Fototapete, auf der ein Geschäft mit Regalen voller Käselaibe zu sehen ist. Er lacht laut. "Käse habe ich nie verkauft! Bei mir gab es Gemüse!"

Pilgerstätte für Pflegemanager

Harry Klein ist 75 Jahre alt, er besaß mal einen gut sortierten Lebensmittelladen und lebt heute in Amsterdam in einer der größten Einrichtungen für Menschen mit weit fortgeschrittener Demenz. Er hat Glück. Der Betreuung liegt ein modernes Konzept zugrunde: Es reicht nicht, lautet der Grundsatz, dass Menschen, deren Gedächtnis nicht mehr richtig arbeitet, es warm haben, gewaschen werden, genug zu essen bekommen und sonntags zusammen singen. Sie sind Individuen mit Gefühlen, jeden Tag, jede Minute. Sie haben Sehnsüchte, Kummer, Erinnerungen. Ebenso Bedürfnisse nach Gemeinschaft, Bewegung, Bedeutung.

Die Busattrappe sorgt im Eingangsbereich des Pflegeheims "Den Ooiman" in Doetinchem für Abwechslung
Die Busattrappe sorgt im Eingangsbereich des Pflegeheims "Den Ooiman" in Doetinchem für Abwechslung
© Ilvy Njiokiktjien/NYT/Laif

Da ihre Gedanken aber schnell in Sackgassen geraten, gelingt es ihnen kaum, selbst aktiv zu werden. Viele werden, wenn sich niemand aufmerksam um sie kümmert, unausgeglichen und aggressiv oder zurückgezogen und depressiv. Sie müssen mit Medikamenten beruhigt oder aufgeheitert werden. Holländische Heimleiter machen die Erfahrung, dass die Arzneidosis deutlich verringert werden kann, sobald auf die Vorlieben und Abneigungen der Menschen eingegangen wird. Viele Heime in Holland machen die Erfahrung, dass bei moderner Betreuung sehr viel weniger Medikamente verabreicht werden müssen. In Deutschland, weiß man aus einer Studie aus dem Jahr 2017, bekommen 43 Prozent der Verwirrten in  Pflegeheimen dauerhaft starke Psychopharmaka, obwohl das erhebliche Nebenwirkungen mit sich bringt und sogar gegen geltende Leitlinien verstößt.

Die Niederlande sind bei der Betreuung dementer Menschen weit vorn. Schon vor zehn Jahren wurde in der Nähe von Amsterdam, in Weesp, ein Dorf mit dem Namen "De Hogeweyk" gebaut, das bald für Gesundheitspolitiker und Pflegemanager von nah (Deutschland, Schweiz) und fern (Amerika, China, Indonesien) zur Pilgerstätte wurde. Gaststätte, Supermarkt, Garten, Friseur, Handwerksschuppen, Dorfplatz, das alles gibt es dort. Sehr gut geschulte Betreuer obendrein, die nach dem neuesten wissenschaftlichen Stand arbeiten und bereit sind, sich feinfühlig auf die Bewohner einzustellen.

Arnold Piek genießt das Rauschen des Meeres aus der Muschel
Arnold Piek genießt das Rauschen des Meeres aus der Muschel
© Ilvy Njiokiktjien/NYT/Laif

In den meisten konventionellen Heimen blieb die Situation bis vor wenigen Jahren hingegen eher trostlos. Den Anstoß, flächendeckend etwas zu ändern, gab ein offener Brief des Schriftstellers Hugo Borst. Er beklagte die katastrophalen Umstände, die er im Heim erlebte, in dem seine Mutter untergebracht war. Der damalige Staatssekretär im Gesundheitsministerium Martin van Rijn erlebte kurz nach Hugo Borst auch sozusagen am eigenen Leibe – genauer: ebenfalls bei seiner Mutter – die deprimierende Realität. Im Land wurde nun eine Debatte geführt, in der es um den Umgang mit alten Menschen ging, um die längst vorhandenen psychologischen und gehirnphysiologischen Erkenntnisse dazu. Die Regierung hob die Pflegesätze an und bewilligte unter dem Motto "Dignity and Pride" – "Würde und Stolz" – einen Extra-Etat. 135 Millionen Euro jährlich stehen nun für Zusatzangebote zur Verfügung, 2020 sollen es 180 Millionen sein. Allerdings, auch das wurde im Zuge der Diskussion klar: Es geht nicht nur ums Geld, sondern vor allem um die Einstellung. Im Dementen-Dorf "De Hogeweyk" gab es schließlich auch keine höheren Sätze als anderswo, dafür aber weniger Hierarchie und Bürokratie, besser ausgebildete Arbeitskräfte und mehr Freiwillige.

Scham und Verunsicherung

Das Problem Demenz wächst, und das in Sprüngen. Zurzeit sind 270.000 Niederländer betroffen, 8,4 Prozent der Einwohner über 64 Jahre. Rund 1,7 Millionen Erkrankte gibt es in Deutschland. Experten erwarten, dass sich die Zahlen bis 2050 verdoppeln. Der Beginn ist meist schleichend, zunächst macht das Kurzzeitgedächtnis Probleme. Die Menschen werden vergesslich. Später geht die Orientierungsfähigkeit verloren, die Sprache wird in Mitleidenschaft gezogen, oft fehlen die Wörter.

Riet van Driel (r.) glaubt manchmal, sie sei eine Pflegerin und begleite die alten Menschen ans Meer
Riet van Driel (r.) glaubt manchmal, sie sei eine Pflegerin und begleite die alten Menschen ans Meer
© Ilvy Njiokiktjien/NYT/Laif

Auch auf das Langzeitgedächtnis kann in einem fortgeschrittenen Stadium nicht mehr ohne Weiteres zurückgegriffen werden. Dass ihr Gehirn zunehmend streikt, merken die meisten Betroffenen selbst. Sie versuchen die Defizite zu kaschieren, sie schämen sich. Oft sind sie verunsichert. Sie brauchen liebevolle Unterstützung, weil sie sich nicht mehr auskennen. Zurechtweisungen und starre Regeln machen alles schlimmer. Wenn die Atmosphäre aber wohlwollend und zugewandt ist, sind Menschen mit Demenz oft freundliche Patienten.

Im Pflegeheim "Leo Polak", wo der 75-jährige Harry Klein untergebracht ist, leben die alten Menschen wie in Familien zusammen – immer sechs pro Gruppe. Die Pflegekräfte werden von vielen Ehrenamtlichen aus der Umgebung unterstützt. Eine fest angestellte "Gastgeberin" gehört zu jeder Gemeinschaft, zusätzlich sind ein oder zwei Fachkräfte da. Die Betreuer haben viel Eigenverantwortung. Sie bestimmen, was eingekauft und was unternommen wird. Es geht möglichst unkompliziert zu. Wer mag, kann lange aufbleiben und am nächsten Tag spät aufstehen – jeder hat im Laufe seines langen Lebens schließlich seinen eigenen Rhythmus gefunden.

Kaffee gibt es nicht nur zu bestimmten Zeiten. Wer gern Kartoffeln schält, kann das tun und so einen Beitrag zur Gemeinschaft leisten, wer gern spazieren geht, hat hier immerhin einen langen Korridor zur Verfügung, der nicht wie ein steriler Heimflur aussieht, sondern wie eine holländische Straße. An den Türen stehen bunte Hausnummern, an den Wänden Fahrräder, aus echten Balkonkästen wachsen Plastikblumen, Läden sind zu sehen wie jener mit den Käselaiben. Es gibt eine Bushaltestelle mit einer Bank davor. Viele Bewohner lassen sich hier mit dem Vorhaben nieder, ihre längst verstorbenen Eltern oder ihre Kinder zu besuchen – und haben diesen Plan alsbald wieder vergessen. Die Räume selbst sind gemütlich eingerichtet – gemütlich ist wichtiger als pflegeleicht. Teppiche bedecken den Linoleumboden, altmodische Sessel, Leselampen, Vorhänge gehören zur Ausstattung. Und eine Menge Antiquarisches aus den 1960er und 70er Jahren, aus jener Zeit, in der die meisten Bewohner besonders viel erlebt haben und aus der ihnen deshalb intensive Erinnerungen geblieben sind.

Willy Briggen liebt die Natur. Sie besaß früher Tiere. Projektionen an der Zimmerdecke machen ihr Freude.
Willy Briggen liebt die Natur. Sie besaß früher Tiere. Projektionen an der Zimmerdecke machen ihr Freude.
© Ilvy Njiokiktjien/NYT/Laif

In Haarlem, 20 Kilometer westlich von Amsterdam, hat der Leiter der Einrichtung "De Houttuinen", Marco de Groot, vor einem Jahr alles neu gestaltet. Dazu gehörte, das Gestrüpp aus Regeln zu jäten. "Im Vordergrund stehen die Menschen", das ist der Merksatz. Und die brauchen Anregungen. Hier gibt es einen offenen Kinoraum mit Samtsesseln, in dem nonstop alte Filme laufen, mit Humphrey Bogart, Liz Taylor oder Romy Schneider. Nebenan spielt sanfte Musik, große grüne Kunstpflanzen werfen Schatten, auf einer Weide stehen Schafe aus Holz und Wolle, die man umwerfen oder umarmen kann. Ein Kinderwagen, Modell 1950er Jahre, steht für die Ausfahrt einer Puppe bereit.

Haarlem, Rom, Paris, Hongkong

Am Ende des Flures liegt der Strand: ein Raum, auf dessen Boden Sand liegt, hier stehen Strandkörbe bereit, aus Lautsprechern tönt Möwenkreischen, Strahler an der Decke spenden Sonnenwärme und helles Licht. Muscheln liegen herum, und ab und zu werden Eisbecher serviert.

Die Pflegerin von Willy Briggen, Helga Mathijssen-Maas, ist gut ausgebildet. Emotionale Zuwendung hat Priorität in ihrer Arbeit.
Die Pflegerin von Willy Briggen, Helga Mathijssen-Maas, ist gut ausgebildet. Emotionale Zuwendung hat Priorität in ihrer Arbeit.
© Ilvy Njiokiktjien/NYT/Laif

Riet van Driel ist eine von denen, die sich mit ihrem Rollstuhl so oft wie möglich an den Strand rollen lassen. Sie ist 94, trägt gern schöne Ketten und achtet darauf, dass ihre Frisur sitzt. Manchmal glaubt sie, dass sie sich wirklich am Meer befindet, dann hält sie mit geschlossenen Augen genüsslich ihr Gesicht in die simulierte Sonne. Manchmal weiß sie, dass alles nur Kulisse ist. Dann kann es sein, dass sie sich für eine Pflegekraft hält und verschwörerisch erklärt: "Ich begleite die alten Leute hierher. Die denken, das ist ein echter Strand."

Ob die Bewohner wissen, dass hier alles Mögliche bloß Fiktion ist, ob sie sich in dieser Welt besser oder gar nicht mehr auskennen, spielt keine große Rolle. Wichtig ist, dass sie sich gut fühlen. Wenn sie in die Vergangenheit eintauchen und dort den wiederfinden, der sie mal waren, wenn etwas passiert, worüber sie lachen oder staunen können, schwinden Hilflosigkeit und Angst.

Harry Klein geht gern spazieren. Dazu laden die Flure des "Leo Polak" ein, die holländischen Landschaften nachempfunden sind.
Harry Klein geht gern spazieren. Dazu laden die Flure des "Leo Polak" ein, die holländischen Landschaften nachempfunden sind.
© Ilvy Njiokiktjien/NYT/Laif

Der finanzielle und personelle Aufwand ist meist überschaubar. Ein fiktiver Bus, wie es ihn zum Beispiel im "Leo Polak" gibt, ist Teil einer Video-Installation. Wer in die Kulisse einsteigt, sieht Häuser und Landschaften an sich vorbeiziehen und kann glauben, dass er tatsächlich fährt. Oder das "Bike Labyrinth", das bereits in über 1000 Einrichtungen zu finden ist. Hier gaukeln Videos eine Fahrradtour vor. Die Kombination ist geradezu genial: Die alten Menschen sitzen auf einem Trimmrad, während es auf dem Bildschirm quer durch Amsterdam oder durch Haarlem, durch Rom, Paris oder Hongkong geht. Für 20 Minuten Strecke stehen vier bis fünf Stunden Videomaterial bereit – so können die Findigeren unter den Nutzern immer wieder per Knopfdruck rechts oder links abbiegen und ihre Strecke selbst gestalten. Über 300 Städte, Städtchen und Landschaften stehen inzwischen zur Auswahl.

Klein war früher Lebensmittelhändler in Amsterdam. Die Tapete weckt Erinnerungen.
Klein war früher Lebensmittelhändler in Amsterdam. Die Tapete weckt Erinnerungen.
© Ilvy Njiokiktjien/NYT/Laif

Manche der Radfahrer finden, während sie beim Treten der Pedale gemächlich ihren Kreislauf in Schwung halten, voller Freude Orte wieder, die sie kennen. Inzwischen haben auch Heime in Deutschland Interesse an diesem Programm bekundet. Seine Anbieter, Ella Keijzer und Job de Reus, wollen deshalb im Sommer zusätzlich zu Hamburg, Heidelberg und München die Bodenseeregion filmen.

Ausflug ins eigene Leben

Auch Harry Klein, der Lebensmittelhändler aus Amsterdam, macht immer wieder Fahrradausflüge durch seine Stadt. Dam, Rijksmuseum, Herengracht, Prinsengracht, Trambahnstationen, Kioske – vieles erkennt er wieder. Seinen Laden hat er unterwegs noch nicht entdeckt, der kommt nicht in dem Film vor. Technisch wäre es gut möglich, dass jemand für ihn eine individuelle Route filmt und dann mithilfe eines USB-Sticks in das System einspeist. Ob das allerdings eine gute Idee wäre, ist nicht sicher. Harry Klein hegt für sein Leben als Kaufmann zumindest an diesem Tag keine sentimentalen Gefühle. Er sagt: "Hier ist Frieden. Früher in der Arbeit war Krieg."

Patentrezepte gibt es bei der Betreuung von dementen Menschen nicht. Gut gemeint kann auch hier das Gegenteil von gut sein. Vor allem kommt es darauf an, genau hinzuhören. Im "Leo Polak" erzählen sie von einem Mann, der merkwürdig missgelaunt war. Es dauerte eine Weile, bis man herausfand: Die schönen Hemden und Hosen, die man ihm jeden Tag hinlegte, hatte er früher immer nur sonntags getragen. Mit den Sonntagen verknüpfte er aber keine angenehmen Erinnerungen. Als er wieder Arbeitskluft trug, kehrte prompt seine gute Werktagslaune zurück.

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