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  4. Gesellschaftskritik: Schein, wohin der Blick fällt

Meinung Schein und Sein

Wir leben in einer Gesellschaft der Blender

Ich, ich, ich: Der schöne und zugleich substanzlose Schein – wir haben uns schnell an ihn gewöhnt Ich, ich, ich: Der schöne und zugleich substanzlose Schein – wir haben uns schnell an ihn gewöhnt
Ich, ich, ich: Der schöne und zugleich substanzlose Schein – wir haben uns schnell an ihn gewöhnt
Viele Menschen vermarkten sich heute, wie das einst nur Hochstapler und Heiratsschwindler taten. Da wird gefeilt und retuschiert, gelogen und betrogen. Am Ende kann niemand mehr zwischen Fiktion und Wirklichkeit unterscheiden.

Unsere Gesellschaft hat eine klare Entscheidung getroffen. So viel Sein wie nötig. So viel Schein wie möglich. Diese Gesellschaft ist eine Scheingesellschaft, ihre Kultur eine Scheinkultur. Substanz zählt wenig. Was zählt, ist der wirkungsvolle Auftritt.

Die Verinnerlichung dieser Geisteshaltung beginnt früh. Selbst kümmerlichste Leistungen werden bei Kindern mit dem Prädikat „super“ ausgezeichnet. Hast du dein Kind heute schon gelobt? Für viele ist es dann ein Schock, wenn sich in der Schule das ständige Loben nicht unvermindert fortsetzt. So geht es weiter, bis schließlich knapp die Hälfte eines Jahrgangs die Hochschulreife erlangt, viele mit Abschlüssen, von denen frühere Generationen nur träumen konnten.

Die Universitäten können und wollen dem nicht nachstehen. In manchen Fächern regnet es geradezu Bestnoten. Das glauben die Älteren, der nachwachsenden Generation schuldig zu sein. Deren Berufsweg soll nicht durch eine sachgerechte Beurteilung erschwert werden.

Der Arbeitgeber, der einem höchst mittelmäßigen Mitarbeiter nicht attestiert, er oder sie habe stets zu seiner vollsten Zufriedenheit gewirkt, beweist heroischen Mut, der ihn leicht vor die Schranken eines Arbeitsgerichts bringen kann. Dort wird er dann belehrt, dass selbst gravierende Verfehlungen dem Mitarbeiter nicht zum Nachteil gereichen dürfen.

Schein, wohin der Blick fällt

Der schöne und zugleich substanzlose Schein – wir haben uns so an ihn gewöhnt, dass viele nicht von ihm lassen wollen, selbst wenn der Preis hoch ist. Was wird uns alles von einer perfekt funktionierenden Werbeindustrie und den dahinter stehenden Auftraggebern suggeriert: Autoabgase, die schadlos inhaliert werden können, Zigarettenrauch, der die Lebenslust erhöht, Faltencremes, die ewige Jugend und Diätpillen, die anhaltende Schlankheit in Aussicht stellen. Schein, wohin der Blick fällt.

Der Bürger hält wacker mit. Viele vermarkten sich – sei es in den sozialen Medien oder im alltäglichen Miteinander – wie sich einst nur Hochstapler und Heiratsschwindler vermarkteten. Da wird gefeilt und retuschiert, gelogen und betrogen, bis am Ende niemand mehr zwischen Fiktion und Wirklichkeit unterscheiden kann.

Wer bin ich, und was will ich sein? Wer diese Fragen stellt, bekommt einen Schwall von Antworten, die jedoch fast ausnahmslos auf dasselbe hinauslaufen: Sei nicht, was du bist, sondern umgib dich mit einem blendenden Strahlenkranz, der den Betrachter nachhaltig beeindruckt.

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Nirgendwo wird diese Kunst mehr zelebriert als in der Politik. Auch hier sind die Zeiten jahrelanger Kärrnerarbeit vorüber. Wer über genügend Glitzer und Glamour verfügt, ist schnell ganz oben. Denn er passt in die Welt des Scheins und findet fast aus dem Stand heraus seine Anhänger.

Doch wie das mit dem Schein so ist: Irgendwann verblasst er, und im ständigen Wechsel von Schein und Sein wird das Sein wieder sichtbar. Nicht selten empfinden die Menschen das als Abstieg. Doch was sie als Abstieg empfinden, ist oft nur das Sichtbarwerden der Wirklichkeit, die ihren Platz beansprucht.

Meinhard Miegel (80) ist ein deutscher Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitet seit Jahren für die Stiftung Denkwerk Zukunft
Meinhard Miegel (80) ist ein deutscher Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitet seit Jahren für die Stiftung Denkwerk Zukunft
Quelle: Stiftung kulturelle Erneuerung

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