Ich schlage eine beliebige Zeitschrift, die über Medienschaffende berichtet, auf, um mich darüber zu informieren, was in Verlagen gerade Thema ist. Wieder einmal lese ich, dass einer der Kollegen auf einer Preisverleihung eine "mutige" oder wahlweise "dringend nötige" Rede gehalten und davon gesprochen hat, dass in Anbetracht "der Weltlage" die Zeit gekommen sei, "Farbe zu bekennen".

Mein erster Gedanke angesichts solcher Appelle ist: Menschenskind! Dann bekenne er sich doch!

"Wir müssen aufstehen" ist eine andere typische Aufforderung, die ich dieser Tage häufiger lese, oder, es gelte, "Haltung zu zeigen". Es herrscht gerade akute Imperativdichte.

Was auch immer mit "der" Weltlage gemeint ist – vermutlich das Abdriften der europäischen Nationen in reaktionäre Denk- und Politikmuster –, scheint mir der Zeitpunkt für derlei Appelle etwas verspätet. Da der Paradigmenwechsel in fast allen europäischen Ländern parlamentarischer Alltag geworden ist, frage ich mich, ob Widerstand in Form von öffentlicher Protestbekundung nicht hinfällig geworden ist. Vielleicht wäre es stattdessen endlich an der Zeit, darüber nachzudenken, wie man "demokratische Partei" definiert.

Allein in Deutschland haben bei der letzten Bundestagswahl sechs Millionen Wähler entschieden, ihre Stimme einer Partei zu geben, deren gesamte Agenda sich in einer mit Schusswaffen kontrollierten deutschen Grenze zusammenfassen lässt, auf dass Deutschland den Deutschen vorbehalten bleibe. Wer genau mit "den Deutschen" gemeint ist, weiß ich nicht. Muss ich auch nicht. Mögen die Parteien und ihre Wähler es bitte selber erklären und sich dabei einen abbrechen.

Mein Bedürfnis, mich dazu zu positionieren, ist längst erloschen. Ebenso mein Wunsch, "Farbe zu bekennen". Jetzt noch mutig sein und aussprechen, was ohnehin für jedermann sichtbar ist? In meinen Augen vollkommen unergiebig. Die Autokraten und Antidemokraten entlarven sich durch ihr Reden und Handeln von ganz allein.

Dies ist ein Auszug aus dem Buch "Haltung. Ein Essay gegen das Lautsein" von Mely Kiyak. Das Buch erscheint am 1. Oktober im Dudenverlag. Die Autorin schreibt für ZEIT ONLINE die wöchentliche Kolumne "Kiyaks Deutschstunde". © Dudenverlag

Für meinen Geschmack herrscht derzeit ohnehin ein Überfluss an Bekennertum. Alle paar Tage werden Statements veröffentlicht, in denen Wissenschaftler, Künstler, Schriftsteller, Philosophen und Polizeigewerkschafter der Öffentlichkeit mitteilen, wie sehr sie eine Politik der "offenen Grenzen" verabscheuen. Davon distanzieren sich dann wiederum andere Wissenschaftler, Künstler und Schriftsteller, indem sie eine Gegenerklärung unterschreiben.

Denen, die sich erst heute hinstellen und Ermutigungsreden halten, um Verbündete für den Marsch "gegen rechts" zusammenzutrommeln, kann ich nur sagen, dass sie ein eigenartiges Bild abgeben. Sie kommen mir vor wie Kinder, die – mit schwerem Ranzen und sperrigem Turnzeug beladen – dem bereits abgefahrenen Bus hinterherlaufen. Die, gegen die sie vermeintlich mutig aufstehen, sitzen derweil längst in diesem Bus und schauen amüsiert raus auf die hechelnden Zuspätkommer.

Dass man denjenigen, die unsere Freiheit und Demokratie bedrohen, keinen Zentimeter Land überlassen darf, dass man sich ihnen rhetorisch-argumentativ entgegenzustellen hat – völlig richtig. Ich sehe das genauso. Allerdings als Präventivmaßnahme. Solche Appelle wären mutig gewesen, hätte man vor drei, fünf oder fünfundzwanzig Jahren auf Preisverleihungen, Galas oder sonst wo öffentlich zum Widerstand aufgerufen. Jetzt wirken diese Reden kraftlos und wohlfeil.