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Meinung Ukraine-Krise

Dieser Russland-Aufruf ist ein peinliches Dokument

Er spielt seine Eskalationsdominanz virtuos aus: Russlands Präsident Wladimir Putin Er spielt seine Eskalationsdominanz virtuos aus: Russlands Präsident Wladimir Putin
Er spielt seine Eskalationsdominanz virtuos aus: Russlands Präsident Wladimir Putin
Quelle: AP
60 prominente Deutsche von Roman Herzog bis Wim Wenders warnen Politik und Medien vor einer „Dämonisierung“ Russlands. Ein peinlicher Aufruf, der die Tatsachen auf den Kopf stellt.

Das Zustandekommen von Aufrufen hat meistens eine ganze eigene Geschichte. Man kennt das aus protesterfahrenen Zeiten. Es gab Zeiten, wo es nicht ohne Risiko war, mit seiner Unterschrift für etwas einzustehen – die Liste der für ihre Anliegen verfolgten Dissidenten im Osten Europas zeigt das. Dann gab es Zeiten, wo es aus der Mode kam, Unterschriften zu sammeln, sei es, weil man sie allzu billig oder auch wirkungslos fand. Es bedarf eines Initiators oder einer Initiatorin, es muss einen Text geben, der passabel ist und irgendwie ein Anliegen formuliert, und man muss die Namen finden, die der Sache Gewicht und Bedeutung verleihen.

In dem jüngsten Aufruf „Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!“ (hier der Wortlaut) kommt das alles zusammen: die Furcht vor einer Eskalation der Spannungen in Europa, das hehre Anliegen, dem nicht Vorschub zu leisten, und viele Namen – von Mario Adorf, der ein wunderbarer Schauspieler ist, bis Gerhard Wolf, Schriftsteller und Verleger, und dazwischen Schriftsteller, Lobbyisten, besorgte Künstler, Freunde von Freunden und Freundinnen, Vorsitzende, Diplomaten a. D., Theologen und Theologinnen, ein Bundespräsident a. D. In der Beschreibung der Stimmung im Lande heißt es unter anderem, dass die Erfolge der Entspannungspolitik und der friedlichen Revolutionen „schläfrig und unvorsichtig“ gemacht hätten. Wie wahr.

Denn in dem Aufruf ist neben vielen Allgemeinplätzen, die die Eigenschaft haben, wahr zu sein, von erstaunlichen Dingen die Rede. So lautet der erste Satz: „Niemand will Krieg“ – so als gäbe es noch gar keinen Krieg. Den gibt es aber. Russische Truppen haben die Krim besetzt, vom Oberbefehlshaber längst bestätigt und mit lange im Voraus vorbereiteten Orden ausgezeichnet.

Der Autor: Karl Schlögel ist Historiker und Osteuropa-Experte. Zwischen 1990 und 2013 war er Professor für Osteuropäische Geschichte, zunächst an der Universität Konstanz, seit 1994 an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Zuletzt erschien von ihm „Grenzland Europa“ (Hanser Verlag). Links seine Frau, die russische Schriftstellerin Sonja Margolina
Der Autor: Karl Schlögel ist Historiker und Osteuropa-Experte. Zwischen 1990 und 2013 war er Professor für Osteuropäische Geschichte, zunächst an der Universität Konstanz, seit 199...4 an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Zuletzt erschien von ihm „Grenzland Europa“ (Hanser Verlag). Links seine Frau, die russische Schriftstellerin Sonja Margolina
Quelle: Martin U. K. Lengemann

Es gibt russische Waffen und russische Truppen, die – völkerrechtliche Grenzen ignorierend – auf dem Territorium der Ukraine operieren, es gibt separatistische Aktivisten, die hin- und herreisen, in Moskauer Fernsehstationen Interviews geben und in der Duma ein- und ausgehen. Sie sind namentlich bekannt.

Es ist in dem „Aufruf“ von einer „Ukraine-Krise“ die Rede, wo es sich um einen unerklärten Krieg Russlands gegen die Ukraine handelt. Offensichtlich sind die Verfasser des Aufrufs der Auffassung, es sei eine „Interpretationsfrage“, wer in der Ukraine Krieg führt. Überhaupt: Die Ukraine kommt nur vor unter anderen – so als wäre sie ein Staat, über dessen Geschichte Deutsche zu verfügen hätten. Denn es geht im Text – wie meistens – um Russland und die Deutschen und ihr Verhältnis zu den Russen.

Plattitüde über Plattitüde. Wer will Russland aus Europa hinausdrängen – es gibt niemand, der das große Russland aus Europa herausdrängen könnte. Das Sicherheitsbedürfnis der Russen achten – seit wann erstreckt sich dies darauf, dass die Sicherheitsbedürfnisse anderer Nationen von anderen, hier wie früher schon einmal, von Deutschen, definiert werden dürfen. Wieder einmal sollen die Deutschen – „mitten in Europa“ – für sich eine Sonderrolle beanspruchen dürfen.

Die Verfasser des Aufrufs erteilen Ratschläge, die man als ziemlich unverschämt zurückweisen darf

Abermals ist vom „Nachbarn Russland“ die Rede: Wie muss die Karte Europas im Kopf derer aussehen, die so etwas von sich geben oder mit ihrer Unterschrift in Kauf nehmen! Peinlich – und wahrscheinlich in der Eile von den viel beschäftigten, ernsthaften Unterzeichnern nicht zur Kenntnis genommen – die Behauptung, Russland sei seit dem Wiener Kongress Mitgestalter der europäischen Staatenwelt. Das geht viel weiter zurück, wie auch Laien wissen, die schon von Peter dem Großen gehört haben.

Und ausgerechnet die Heilige Allianz zu zitieren, mit der die Teilung Polens zementiert, die polnischen Aufstände niedergeworfen und die 1848er-Revolution bekämpft worden ist – das passt nicht gut zur Ernsthaftigkeit eines um den Dialog bemühten Unternehmens. Vom Molotow-Ribbentrop-Pakt – eine zentrale Erfahrung aller Völker „dazwischen“ und im 75. Jahr der Wiederkehr des Vertrages, der den Zweiten Weltkrieg möglich gemacht hat – ist im Text gar nicht die Rede, einfach zur Seite geschoben, „verdrängt“.

Die Verfasser des Textes belassen es aber nicht bei ihrer eigenwilligen Sicht auf die Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen, sondern erteilen auch Ratschläge, die man als ziemlich unverschämt zurückweisen darf. Da ist von den angeblich in deutschen Medien kultivierten Feindbildern die Rede – wobei jeder weiß, dass kaum eine Gesellschaft wie die deutsche nach dem Krieg so viel getan hat, um mit den tief sitzenden Russen-Stereotypen aufzuräumen.

Russenkitsch und sentimentale Klischees

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Den Medien wird nicht nur mit dem Finger gezeigt: Man solle aufhören mit der „Dämonisierung von Völkern“. Was ist das, wenn nicht der Versuch, die Arbeit von Journalisten zu beeinflussen, ihnen ein schlechtes Gewissen einzureden und auf sie Druck auszuüben.

Aber es ist wahr: Gegen Russenkitsch und sentimentale Klischees ist niemand gefeit, nicht einmal Herr Platzeck, der die Annexion der Krim anerkannt wissen möchte, und der seine besondere Vertrautheit mit der russischen Kultur mit seinem frühen Umgang mit russischen Soldaten begründet, oder eine Abgeordnete der Linken, deren Wertschätzung für die russische Kultur von einer Klassenfahrt nach Moskau stammt; dort hatte sie in der Metro Fahrgäste Tolstoi lesen gesehen.

„Es geht nicht um Putin“, heißt es – das ist wahr, aber vor allem falsch; er ist es doch, der seine Eskalationsdominanz virtuos ausspielt. Er darf sogar zur Primetime unhinterfragt die Lüge von „ethnischen Säuberungen in der Ukraine“ unters deutsche Fernsehpublikum bringen. Und durch seinen Mund erfuhren wir letzte Woche, dass die Krim schon immer das spirituelle und sakrale Zentrum Russlands gewesen sei.

Ressentiment und Selbstüberschätzung

Was soll man zur Forderung nach Weiterführung des Dialogs sagen? Niemand hat sich so sehr um die Aufrechterhaltung des Gesprächs gekümmert wie die für ihre geduldigen Telefonate gerühmte Bundeskanzlerin. Der Aufruf gibt, ohne dass er es offen aussprechen würde, denn dazu gehörte ein gewisser Mut, „dem Westen“ die Schuld an der „Krise“.

Das ist Spiel mit dem Ressentiment, vor allem aber Selbstüberschätzung – wie es schon eine Selbstüberschätzung war, die Perestroika der 80er-Jahre auf Reagans Politik zurückzuführen. Russland ist zu groß, zu eigensinnig, lässt sich von niemandem erpressen, es geht seinen eigenen Weg und nicht den seiner Deuter, egal ob böswilliger oder wohlmeinender.

Der Aufruf insinuiert, die deutsche Regierung habe nicht alles unternommen, was in ihrer Kraft steht, um die drohende Eskalation zu vermeiden. Man kann nur hoffen, dass nicht alle, die das peinliche Dokument unterschrieben haben, wussten, was darin steht. Noch besser wäre, wenn die um die Lösung der „Ukraine-Krise“ Besorgten sich einmal in der Ukraine umsehen würden.

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