Read the English version of this article here

ZEIT ONLINE: Herr Leggeri, in Deutschland hoffen viele, dass nach dem EU-Deal mit der Türkei weniger Flüchtlinge nach Europa kommen werden. Denken Sie das auch?

Fabrice Leggeri: Die Vereinbarung mit der Türkei ist vor allem ein Signal. Sie zeigt: Die Grenzen nach Europa sind nicht einfach offen. Das wird viele davon abhalten, Tausende Euro an die Schleuser zu bezahlen und illegal nach Europa einzureisen. Insofern: Ja, die Zahlen werden kleiner werden. Aber: Es wird weiterhin schutzbedürftige Menschen vor den Toren Europas geben, vielleicht sogar mehr als früher.

ZEIT ONLINE: Die "historische Krise", von der sie unlängst gewarnt haben, ist also nicht vorbei?

Leggeri: Natürlich nicht. Die Ursachen sind die gleichen geblieben. In Syrien herrscht noch immer ein Bürgerkrieg, in dessen Folge rund die Hälfte der Bevölkerung das Land verlassen hat. Allein in Jordanien leben vier Millionen Menschen in Flüchtlingslagern. Je ferner der Frieden rückt, desto verzweifelter werden diese Leute. Diese Menschen verschwinden nicht. Und Europa hat weiterhin die Pflicht, ihnen Schutz zu gewähren.

ZEIT ONLINE: Ob jemand Schutz bekommt oder nicht, entscheidet nun einer der schwächsten und schlecht organisiertesten Staaten der EU: Griechenland. Finden Sie das nicht problematisch?

Leggeri: Griechenland ist nicht allein, sondern bekommt Hilfe aus Europa, auch von Frontex. Aber es stimmt: Wir müssen sicherstellen, dass die wirklich Schutzbedürftigen diesen Schutz auch erhalten können.

ZEIT ONLINE: Sie klingen skeptisch.

Leggeri: Es wird eine große Aufgabe. Wir von Frontex werden uns daran mit bis zu 1.500 Beamten beteiligen, darunter Grenzbeamte und Experten für die Registrierung von Asylsuchenden.

ZEIT ONLINE: De Facto läuft der Deal darauf hinaus, dass nur noch wenige Menschen in Europa Asyl beantragen können – weil die Türkei nun als sicheres Herkunftsland gilt. Wie finden Sie das?

Leggeri: Der Deal mit der Türkei ist ein Kompromiss. Und wir sollten uns bewusst machen, was für eine gewaltige Aufgabe auf die Türken zukommt. Grundsätzlich bin ich aber der Meinung, dass wir legale Wege für Flüchtlinge in die EU schaffen müssen, damit Europa seiner Verpflichtung nachkommt, Asylsuchenden Schutz zu gewähren. Und da sind die 18.000 Menschen im Jahr – von denen bislang die Rede ist – sicherlich nur ein Anfang.

ZEIT ONLINE: Bisher haben wir sie als Chef einer Agentur wahrgenommen, die helfen soll, Europa abzuschotten – auch vor potenziellen Flüchtlingen. Jetzt mahnen sie an, dass Europa den Flüchtlingen weiterhin Asyl gewähren muss. Wie geht das zusammen?

Leggeri: Das war und ist ein Missverständnis. Wir sind zwar für den europäischen Grenzschutz zuständig. Aber sobald unsere Mitarbeiter auf Menschen – etwa während einer Rettung auf dem Meer – treffen und diese Menschen bitten um Asyl, verhalten wir uns neutral und leiten die Personen an die zuständigen Behörden weiter. Wir weisen niemanden ab und dürfen das auch gar nicht. In den vergangenen Monaten waren wir übrigens an 90 Prozent aller Seenotrettungen im Mittelmeer beteiligt.

ZEIT ONLINE: Dennoch soll Frontex eigentlich helfen, die europäischen Grenzen zu sichern. Im vergangenen Jahr gab es 1,8 Millionen illegale Grenzübertritte nach Europa. Was ist aus Sicht von Frontex schief gelaufen?

Leggeri: Was sich geändert hat, war der gewaltige Zustrom an Menschen. Und den gab es, weil die Welt sich um Europa herum rapide verändert hat. In Syrien, in Teilen Afrikas, im Nahen Osten: Überall sind neue Krisenherde entstanden oder haben sich die Zustände für die Menschen verschlechtert. Es ist die pure Verzweiflung, die die Menschen nach Europa hat fliehen lassen. Ich habe manchmal das Gefühl, dass viele EU-Bürger das Ausmaß dieser Entwicklung nicht ganz begriffen haben.

ZEIT ONLINE: Auf der anderen Seite verstehen viele Bürger nicht, warum Europas Grenzen so schwer zu bewachen sind.

Leggeri: Manche Teile der Grenze sind leichter zu bewachen, andere – etwa rund um die griechischen Inseln – schwerer. Und es kommt darauf an, ob wir Ansprechpartner in den angrenzenden Ländern haben. In Libyen etwa ist die Situation politisch extrem schwierig, deshalb haben es die Schleuser dort leichter. Und die Türkei könnte meiner Ansicht als Exekutivdirektor von Frontex nach mehr tun, um Schleuser zu bekämpfen. Aber es stimmt schon: Wir brauchen einen effektiveren Grenzschutz und eine gemeinsamen, europäischen Ansatz. Deshalb begrüßen wir auch den Vorschlag der EU-Kommission, die Frontex zu einer eigenständigen Grenzschutzbehörde mit breiterem Mandat ausbauen will.  Allerdings sage ich auch: Manchmal fragen wir uns, ob wir wirklich die notwendige Unterstützung aller Mitgliedsstaaten haben.

ZEIT ONLINE: Was fehlt ihnen?

Leggeri: Ich will Ihnen ein Beispiel geben. Als ich im vergangenen Oktober in einem Brief an die Mitgliedsstaaten um 775 Grenzbeamte zur Bewältigung der Flüchtlingskrise gebeten habe, bekam ich aus manchen Ländern einen Anruf.  Ob mir in meinem Brief ein Fehler unterlaufen sei? Ich hätte doch wohl eher 75 statt 775 Beamte gemeint. 

ZEIT ONLINE: Was haben Sie geantwortet?

Leggeri: Das es natürlich kein Fehler war und wir die Leute brauchen. Das lässt mich zweifeln, ob alle Mitgliedsstaaten wissen, wie schwerwiegend diese Krise ist. Ein guter Grenzschutz kann außerdem eine gute Migrationspolitik nicht ersetzen. Und die Krise des vergangenen Jahres war in meinen Augen keine Krise von Schengen, sondern eine Krise des europäischen Asylsystems.

ZEIT ONLINE: Wie meinen Sie das?

Leggeri: Die meisten Flüchtlinge sind im vergangenen Jahr über die Türkei nach Griechenland gekommen. Dort trafen sie auf ein Land, das in einer tiefen Krise steckte. Das Land war weder in der Lage, die Grenzen ausreichend zu sichern, noch hatte es offenbar genug Kapazitäten, die Flüchtlinge zu registrieren. Viele Menschen sind dann einfach nach Norden weitergezogen, ohne dass es überhaupt eine Chance gegeben hätte, die Menschen zu registrieren und halbwegs gerecht in Europa zu verteilen.

ZEIT ONLINE: Griechenland wurde allein gelassen?

Leggeri: Man hat sich darauf verlassen, dass Griechenland es schon hinbekommt. Das war aber offenbar nicht der Fall. Ich selbst habe damals im Juni informell in Brüssel angeboten, dass Frontex für einige Monate die Gehälter der griechischen Grenzbeamten bezahlt, damit der Grenzschutz intakt bleibt. Wir haben auch angeboten, an der griechisch-mazedonischen Grenze zu helfen. Beides wurde abgelehnt – weil wir dafür kein Mandat haben. Ich frage mich trotzdem: Warum hat sich die EU auf ein Land verlassen, das in mitten einer finanziellen Krise war?

ZEIT ONLINE: Eine andere Frage lautet, warum Europa die geordnete Aufnahme von Flüchtlingen an ein paar Millionen für Grenzbeamte scheitern lässt.

Leggeri: Das Problem sind nicht die paar Millionen Euro. Das Problem ist zu wenig Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten. Einige Regierungschefs denken mittlerweile nur noch national. Und sie tun das, weil ihre Wähler es von ihnen einfordern. Die Bürger verstehen nicht, dass wir es mit einer europäischen Aufgabe zu tun haben, die wir auf nationaler Ebene nicht lösen können. Das ist fatal, denn wenn wir das Problem nur national betrachten, werden wir scheitern.