Später kommen 30 Leute, das wird nett. Miles Davis und Grace Jones liegen bereit. Das Tiramisu habe ich kalt gestellt und eben schon am Crémant genippt, als plötzlich "die ersten Nachrichten reinkommen". Die Lage ist noch unklar, wie immer. Aber es hat wieder einmal geknallt, wie so oft in jüngster Zeit. Im Internet die ersten Tweets: "Je suis … sick of this shit". Es geschah in X, wo Marion und Sven so gerne Urlaub machen. Es geschah in Y, wo Sarah noch Verwandte hat. Oder es geschah in Z, das ist hier gleich um die Ecke.

Was tun?

Absagen? Mit angezogener Handbremse feiern? Lieber Bach und Cohen auflegen? Warum nicht gleich Slayer? Oder erst recht Omar Suleyman und Rihanna und tanzen, tanzen, tanzen? Aber wenn wir doch alle mitgenommen, weil "mitgemeint" sind, wird uns danach zumute sein? Schon diese Fragen bedeuten, dass draußen vor der Tür eine zudringliche Welt wartet wie ein weiterer Gast, den niemand eingeladen hat. Die Frage ist nicht nur, ob wir ihn freiwillig hereinlassen. Die Frage ist vielmehr, wie wir ihn abweisen, wenn er sich gewaltsam Zutritt verschaffen will. Denn das tut er.  

Vor dem Mönch am Meer von Caspar David Friedrich war Heinrich von Kleist unbehaglich zumute. Das Bild mit den kalten Dünen vor der endlosen Wasserwüste unter dem trüben Himmel wirkte "wie die Apokalypse" auf den Dichter: "So ist es, wenn man es betrachtet, als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären". Aus der drastischen Metapher des Empfindsamen angesichts eines düsteren Gemäldes ist heute der normale Modus einer digital beschleunigten Medienrezeption geworden. Nicht nur tragen sich Mord und Totschlag weltweit in scheinbar immer höherer Schlagzahl zu. Die Kunde vom Schrecken wird uns auch in einer Geschwindigkeit zugetragen, die in ihrer verwirrenden Fülle und ihrem Detail ohne Beispiel ist. Uns allen sind die Augenlider weggeschnitten.

Wir können nicht nicht sehen.

Aber können wir unseren Augen trauen? Im westlichen Europa kamen zwischen 1973 und 1988 jährlich mehr als 150 Menschen ums Leben – mehrheitlich Opfer von IRA, ETA oder RAF. Seitdem ist die Zahl der Opfer kontinuierlich gesunken, die Distribution von Bildern dieser Opfer aber exponentiell gestiegen. Wenn früher in Deutschland ein Alfred Herrhausen ermordet wurde, dann galt der Anschlag: Alfred Herrhausen. Dann berichtete maximal ein Radiosender nachmittags, was endlich die Tagesschau am Abend ausführlich und bebildert darlegte, bevor in den folgenden Tagen die Zeitungen ihre Analysen lieferten.

Die Verdichtung der Distribution

Heute wird mir die Tatsache einer Explosion als Push-Mitteilung auf mein Smartphone gemeldet, bevor noch der Knall verhallt ist. Kurz darauf folgen verwackelte Videos von Augenzeugen, anhand derer ich meinen angeborenen Sensationshunger mit Bildern von Chaos, Panik und Zerstörung stillen kann – zugleich fürchtend und insgeheim hoffend, der nächste Täter würde seine Tat gleich selbst per Periskope streamen. Diese Beschleunigung und Verdichtung der Distribution macht etwa mit uns. Es ist ein Unterschied ums Ganze.

Es spielt keine Rolle, dass es sich bei der vermeintlichen Nähe des Grauens nachweislich um eine optische Täuschung handelt. Auch deshalb sollten wir Tätern nicht den Gefallen erweisen, zwischen "psychisch kranken" oder "politisch motivierten" zu unterscheiden. Beiden geht es um unseren Blick auf ihre Tat, mit dem der Schrecken bereits verbreitet ist. Wir können, was wir einmal sahen, nicht ungesehen machen. Ein Anschlag ist ein lokales Ereignis, das ganz auf Fernwirkung spekuliert.