Wenn ein politischer Denker von Rang, der mit 50 Lebensjahren eine wohldurchdachte konservative Position einnimmt, mit 75 Lenzen zu einem Radikalen wird, der mit rechtspopulistischen Feuern spielt und Mäßigung in der öffentlichen Rede für verzichtbar hält, dann muss die Frage nach den Ursachen einer solchen Verwandlung gestellt werden. Wie konnte es dazu kommen, dass Alexander Gauland vom wertkonservativen Intellektuellen mit Strahlkraft in die Mitte der Gesellschaft hinein zum Vordenker und stellvertretenden Vorsitzenden der Alternative für Deutschland (AfD) geworden ist? Gaulands Weg ist dabei nur das prominenteste Beispiel für eine konservative Strömung, die sich für missverstanden hält, aber tatsächlich längst einen gefährlichen Irrweg beschreitet.

Im Wesentlichen konkurrieren zwei Deutungen. Die eine: Alexander Gauland und seine Gesinnungsfreunde sind sich in Wahrheit treu geblieben und nur durch die Linksverschiebung des politischen Koordinatensystems in Deutschland quasi unverschuldet an den rechten Rand geraten. Hier erscheint Gaulands Einsatz für die AfD als Notwehrakt eines zornigen alten Mannes gegen den vermeintlich rot-grünen Zeitgeist, der sogar die Union erfasst haben soll. Die andere Deutung: Gauland und die Seinen haben ihre konservativen Ideale verraten und sich stattdessen auf eine Plattform begeben, die nichts anderes tut, als die Unzufriedenen einzusammeln und ihnen nach dem Munde zu reden. Das Spiel mit Ressentiments sei für einen konservativen Intellektuellen eine ebenso große Todsünde wie das Versprechen, das Rad der Geschichte wieder zurückdrehen zu können.

Dass Gauland nach 40-jähriger Mitgliedschaft die CDU verließ, hatte noch eine gewisse Logik, die zumindest Konservative nachvollziehen konnten. Dass er mit anderen 2013 die AfD gründete, erstaunte schon deutlich mehr, weil der anglophile Kulturmensch Gauland bis dahin eher als jemand galt, der dem Fremden und dem Neuen zwar immer skeptisch, aber nie feindselig gegenüberstand. Dass er die Flüchtlingskrise als Geschenk für die AfD bezeichnete, mit Pegida anbandelte und dem rechtspopulistischen Affen fortan fast täglich neuen Zucker gab, war bereits ein großes Übel. Dass er nun aber ernsthaft erwägt, im Europaparlament gemeinsame Sache mit dem Front National von Marine Le Pen zu machen und "den Islam" als prinzipiell nicht europafähig bezeichnet, erstaunt bei einem Mann von seinem intellektuellen Format doch sehr.

Bei Europa denkt er an Venedig

Der Zufall will, dass 2016 ein Text 25 Jahre alt wird, der dabei helfen kann, die Wandlung Gaulands einzuordnen. 1991 schrieb der damalige CDU-Politiker Gauland das kluge Essay Was ist Konservativismus? Streitschrift gegen die falschen deutschen Traditionen (Eichborn-Verlag 1991).

Nimmt man sich diesen Text aus der direkten Nachwendezeit vor, so steht in dessen Zentrum ein tragender Gedanke: "Das Konservative ist nicht ein Hängen an dem, was gestern war, sondern ein Leben aus dem, was immer gilt." Aus dieser Haltung heraus entwickelt Gauland ein politisches Programm, dessen vornehmste Aufgabe er darin sieht, den Traditionsverschleiß der fortschrittsfixierten Moderne abzumildern und konservative Widerlager zu errichten. Dazu zählt er als zentrale Werte: Überschaubarkeit, Entschleunigung, Dezentralisation, Gleichgewicht, Vielgestaltigkeit und Subsidiarität.

Bei Europa denkt Gauland von 1991 nicht zuerst an Brüssel und seine Institutionen, sondern an Venedig, die toskanische Landschaft, ein viktorianisches Seebad, einen englischen Landschaftspark oder die Mark Brandenburg. Die so vielfältige Kunst und Kultur der europäischen Regionen ist ihm als "Ausbruch der Menschen aus dem versteinerten Gehäuse der Rationalität" ganz und gar unverzichtbar. Aus diesem europäischen Erbe leitet er indirekt eine konservative Politik von "Maß und Mitte" ab, die "die Seelen- und Kulturlandschaft Europas respektiert und bewahrt und zu diesem Zweck eine Ethik der Beschränkung entwickelt". Wenn es dem "konstruktiven Konservatismus" nicht gelinge, den gefährdeten Traditionen und Lebenswelten den Weg in die demokratische Artikulation zu eröffnen, dürfe man sich nicht wundern, wenn rechtspopulistische Parteien (wie Anfang der 1990er Jahre die Republikaner) und "falscher Konservatismus" Zulauf bekämen.