Thomas Fischer ist Bundesrichter in Karlsruhe und schreibt für ZEIT und ZEIT ONLINE über Rechtsfragen. Weitere Artikel seiner Kolumne Fischer im Recht finden Sie hier – und auf seiner Website.

Der Oberstudienrat Björn Höcke, geboren 1972, möchte gern ein Opfer sein. Er müsse, so sprach er am 17. Januar in Dresden, unendlich viel hinnehmen, erleiden – ja erdulden. Er nehme dies aber gern auf sich, weil allein solch ein geduldiger Leidensweg ihn und das liebe Volk zum "endgültigen Sieg" führen werde.

Früh begann sein hartes Los: Herr Höcke ist ein "Vertriebener", und ein Heimgekehrter zugleich. Vertrieben waren allerdings nur seine Großeltern, und heimgekehrt ist er selbst nach einer Weltenreise von immerhin 300 Kilometern von Lünen über Anhausen und Gießen nach Bornhagen, einem Örtlein von 302 Einwohnern im Bezirk Hanstein-Rusteberg. Dort, so sagte Herr Höcke umbrandet vom Jubel der Dresdner Patrioten, habe er sich vorbildlich in die Thüringer Population integriert.

Zwei Semester Jura haben ihm in der Jugend gereicht, um an der Verderbtheit des deutschen Rechtssystems (oder der Unbegabtheit zum Studium der Rechte) zu verzweifeln. Er lehrte dann lieber die hessische Jugend die herrlichen Fächer Sport und Geschichte als Oberstudienrat (Besoldungsgruppe A 14), also in einer Position, die 95 Prozent seiner "lieben jungen Freunde" und seines "lieben Volks", an welche er in Dresden sein Wort richtete, niemals werden erreichen können.

Aber nichts soll hier gegen Geschichtslehrer gesagt werden: Die deutschen Helden, die Großen der Kultur, die Giganten der Paläste und Schlösser, der Sinfonien und Gedanken – wer kennt sie besser als Höcke Björn, OStR aus Marburg an der Lahn?

Populismus

Was bedeutet "Populismus"? Wir haben uns daran gewöhnt, dass irgendwelche krakeelenden und unpassend sich gerierenden Menschen von anderen, seriös Daherkommenden als "Populisten" bezeichnet werden. Man findet den Begriff gern auch aufgeteilt in 1) "Linkspopulist" (sagen wir: Bruno Chavez, Katja Kipping), 2) "Rechtspopulist" (sagen wir: Geert Wilders, Alexander Gauland, Wladimir Schirinowski) und 3) "Populist" im Allgemeinen (sagen wir: Silvio Berlusconi, Donald Trump, Frauke Petry). Diese Aufzählung ist natürlich auch schon wieder aqua destillata auf die Gebetsmühlen der Populisten, deren Populistentum sich vor allem daraus speist, Populisten genannt zu werden, obwohl sie doch die Enthüller der Wahrhaftigkeit in der Wüste der Lüge sind, was schon dadurch bewiesen ist, dass sie diese Behauptung von früh bis spät wiederholen. Manche von ihnen, mit der richtigen ICD-10-Nummer, glauben es wohl auch selbst. Sie blicken aus dem Fenster und sehen, wo die Wissenschaft nur leere Flächen wahrnimmt, leibhaftig einskommafünf Millionen Menschen vor dem Haus stehen, ergriffen jubelnd.

Denn mal im Ernst: Käme man auf die Idee, zum Beispiel Herrn Gauland einen "Populisten" zu nennen, als sei er der Vertreter einer geistig-moralisch-politischen Definitions-Elite und nicht ein etwas in die Jahre gekommener Pappkamerad mit langer Nase und noch längerer Leitung?

Populus ist bekanntlich ein lateinisches Wort. Es wird gemeinhin mit "Volk" übersetzt, weswegen die Lichtgestalten der Europäischen Völker (Le Pen, Wilders, Petry und andere) sich ja auch gerade unter Fahnengeflatter und Trompetengeschmetter getroffen und dann verkündet haben, dieses Ereignis sei der Beginn einer historischen Befreiung der "Europäischen Völker" voneinander, überdies vom Islam, von Amerika, der Europäischen Union und überhaupt allem, was die lieben Völker nicht verstehen.

"Populismus", so sagt Wikipedia, ist geprägt von Ablehnung der Machteliten und Institutionen, geprägt von Anti-Intellektualismus, scheinbar unpolitischem Auftreten, Berufung auf den "gesunden Menschenverstand" (common sense) und die (ganz berühmt) "Stimme des Volkes" (vox populi). Geprägt auch von Personalisierung, Moralisierung und Argumenten ad populum oder ad hominem (meint: ans einfache Volk oder an das Individuum).

Stimmt. Deshalb gibt es ja seit Jahrzehnten den "Politischen Aschermittwoch", die "Neujahrstreffen", die Festansprachen, die Pressemitteilungen und viele andere Veranstaltungen der Verlautbarung. Deshalb berichten uns täglich Print- und Online-Medien, was der Politiker A möglicherweise über den Politiker B gesagt oder besser noch gedacht hat, wer wann wie was werden möchte, könnte, darf oder soll, was man denken dürfen soll und wer ins Dschungelcamp einziehen darf – letzteres selbstverständlich nur mit der humorvoll-jovialen Distanz, die Frauke Petry von Gina Lisa Lohfink, Anne Will von Erika Steinbach und Dirk Bach von Alice Schwarzer unterscheidet. Der jeweils pure Wille also zur Information. Für die Eliten bereiten die Sender ab 22 Uhr Folgendes noch einmal kurz zusammengefasst und lang bequasselt  auf: Bricht die Welt zusammen? Was wird aus Amerika? Sind Dax, Botox, Polizei und Parteien am Ende?

Populismus ist also ein rätselhaftes Phänomen, das in den Labors der Politologischen Seminare nachgewiesen wurde, jenseits der infektionshemmenden Trennscheiben, aber seit ungefähr 250 Jahren eine Massenseuche ist, an welcher rätselhafter Weise immerzu die jeweils anderen erkranken, man selbst aber nie.