Es war ein langer, ein lauter Todeskampf. In mehreren quälenden Lesungen debattierte das türkische Parlament die neue Verfassung. Die Agonie war sichtbar in den Massenschlägereien, die die Abstimmungen begleiteten. Abgeordnete warfen sich mit erhobener Faust in die Menge. Sie verstießen gegen die Wahlprozeduren, warfen mit der Verfassung, grölten, traten, schlugen. Zwei weibliche Abgeordnete mussten ins Krankenhaus eingeliefert werden. Die Abstimmungen waren existenziell. Es ging um Leben und Tod. Nun steht das Ergebnis fest: Die parlamentarische Demokratie der Türkei ist nicht mehr. Ein Nachruf ist fällig.

Die Türken wählten seit 1946 ein Parlament mit mindestens zwei Parteien. Seit den fünfziger Jahren, als der erste demokratische Regierungswechsel gelang, kann man von einer parlamentarischen Demokratie sprechen. Mit Fehlern, mit Militärputschen, mit Chaos und Unterbrechungen, gewiss. Aber das Parlament war das politische Forum des Landes und spätestens seit 2003 (und der selbstbewussten Ablehnung des US-Truppendurchmarsches in den Irak) das Machtzentrum, wo die Geschicke des Landes entschieden wurden.

Mit der neuen Verfassung, die das Parlament nun beschlossen hat, ist das vorbei. Wenn das türkische Volk diese Verfassung im kommenden Referendum bestätigt (was wahrscheinlich ist), dann wird der Posten des vom Parlament gewählten Ministerpräsidenten nicht mehr existieren. Stattdessen wird die exekutive Macht allein beim vom Volk gewählten Präsidenten liegen. Der Präsident wird auch umfassende gesetzgebende Kompetenzen haben, er wird Parteichef sein dürfen, er wird über seine Partei das neue Schmalspurparlament kontrollieren. Seine Abgeordneten werden die von ihm gewünschten Gesetze liefern, die er selbst ausführt. Und die von ihm ernannten Richter werden darüber urteilen, ob das in Ordnung geht. Die Parteigänger von Tayyip Erdoğan nennen das "Demokratie".

Erdoğan beschwerte sich über "Hindernisse"

Sie wissen nicht, wovon sie sprechen. Demokratie ist nicht, wenn einmal in fünf Jahren gewählt und sonst durchregiert wird. Auf das Volk, auf die nackte Mehrheit berufen sich alle autoritären Herrscher. Plebiszite und Wahlen, in denen die Opposition keine Chance hat, gehören genauso zur autoritären Herrschaft wie der Polizeiapparat.

Demokratie – das sind die vielen kleinen Hürden und Gegenkräfte im Regierungsalltag, die Anfragen der Opposition, ein selbstbewusstes Parlament, die krittelnden Medien, das mühselige Aushandeln eines politischen Konsenses oder die Einwände der Verfassungsrichter. Alles das, worüber sich Erdoğan schon vor fünf Jahren aufgeregt hat, als er sich über die "Hindernisse" beschwerte, die das Regieren so "ineffizient" machen.

Diese Hindernisse nennt man gemeinhin Gewaltenteilung. Der französische Aufklärer Montesquieu unterschied zwischen Monarchie, Republik und Despotie. Er sah die Republik stets in der Gefahr, in eine Despotie abzurutschen.

In der Trennung von Regierung, gesetzgebender Gewalt und Richterschaft sah er die Garantie, dass dieses nicht passiere. Die parlamentarische Demokratie ist bis heute die beste Rückversicherung dagegen. Die Abgeordneten in Ankara haben sie nun abgeschafft. Dabei hatte sie eine lange Tradition in der Türkei.