ZEIT ONLINE: Herr Doyle, am Wochenende wurden vor der Küste Libyens erneut Tausende Flüchtlinge aus dem Mittelmeer gerettet. Retter berichteten von Schusswunden und Folterspuren bei den Geflüchteten. Was widerfährt den Migranten in Libyen?

Leonard Doyle: Die Menschen geraten in Libyen in ein System von Ausbeutung und Gewalt. Wir wissen von Sklavenmärkten in Libyen, auf denen Migranten und Flüchtlinge als Arbeitskräfte verkauft werden. Frauen werden als Sexsklavinnen angeboten. Für die Männer kommt zu der Ausbeutung als Arbeitskraft hinzu, dass sie extrem schlecht behandelt werden. Viele werden von ihren Hausherren geschlagen und gefoltert.

ZEIT ONLINE: Wie funktioniert das Geschäft auf den Sklavenmärkten?

Doyle: Es sind öffentliche Märkte. Viele Geschäftsleute gehen dort hin und kaufen für 200 bis 500 Dollar einen Menschen. Die Käufer können ihn dann für ihre Arbeiten ausnutzen, wie sie wollen. Die Migranten werden oft aus den Gefängnissen geholt und dann angeboten. Sie arbeiten auf Farmen, in der Landwirtschaft, im Haushalt. Die Frauen werden vor allem sexuell ausgebeutet. Das wissen wir aus vielen Berichten von Opfern.

ZEIT ONLINE: Wie viele Menschen sitzen in Libyen im Gefängnis?

Doyle: Es sind schätzungsweise 20.000 Migranten in libyschen Gefängnissen inhaftiert. Sie leben dort unter ganz unterschiedlichen Bedingungen. Einige sind in regulären Gefängnissen, zu denen Hilfsorganisationen und auch wir Zugang haben. Wir können dort zumindest eine Grundversorgung leisten, bringen Decken, Hygieneartikel – eben die Grundausstattung, damit die Menschen überleben können. Die meisten aber sitzen in Foltergefängnissen fest. Sie haben sehr wenig oder kein Essen, werden geschlagen und gefoltert, es gibt keinerlei hygienische Standards, Frauen und Männer werden zusammen auf kleinstem Raum gehalten. Das sind unmenschliche Zustände.

ZEIT ONLINE: Warum kommen die Migranten trotzdem?

Doyle: Man kann sagen: Die Menschen sind am Ende der Kette, sie sind Teil einer organisierten Tötungsmaschine. Sie verlassen ihre Heimatdörfer in Westafrika, in Nigeria, Gambia, Senegal, aber auch in Eritrea und Bangladesch, weil sie auf ein besseres Leben hoffen. Schmuggler erzählen ihnen, dass in Libyen Arbeit und Wohlstand auf sie warten und sie von dort einfach nach Europa aufbrechen können. Die Schlepper stellen inszenierte Erfolgsgeschichten auf Facebook und WhatsApp. Die Menschen lesen das und sehen einen Ausweg aus ihrer Armut und Perspektivlosigkeit. Sie haben keine Ahnung, was sie in Libyen erwartet. Sie ignorieren die Warnungen von Menschen, die die Gefahren vor Ort kennen. 

ZEIT ONLINE: Was passiert mit den Migranten, wenn sie in Libyen ankommen?

Doyle: Sie werden von Milizen entführt und festgehalten. Die Milizen nehmen ihnen das restliche Bargeld ab, alle Wertsachen und Papiere. Einige werden auf der Stelle erschossen. Die anderen werden zur Ware der Menschenhändler. Dieses System funktioniert vor allem deshalb, weil Libyen seit dem Sturz von Gaddafi ein failed state ist, ein Land ohne funktionierende staatliche Strukturen. Es gibt keine Regeln, die den Schleppern Einhalt gebieten könnten.

Libyen hat sechs Millionen Einwohner und ist doppelt so groß wie Frankreich. Man schätzt, dass etwa eine Million Migranten in Libyen leben. Die Migranten sind  für viele Libyer ein Geschäftsmodell geworden, eine wichtige Einkommensquelle.