In Zeiten, da Hunderttausende Tote des Syrien-Krieges kaum mehr jemanden erschüttern, bringt einen vielleicht die Zahl zehn zum Nachdenken. Zehn Kilometer liegen zwischen Daraja und dem Hauptquartier der UN in Damaskus. Zehn Kilometer zwischen einem Vorort der syrischen Hauptstadt, in dem Menschen Gras und Salzsuppe essen müssen, und dem Büro jener Organisation, die mit der humanitären Versorgung der syrischen Zivilbevölkerung beauftragt ist.

Daraja ist in den Händen der bewaffneten syrischen Opposition, wird von einem lokalen Rat verwaltet und vom Regime belagert. Im November 2012 wurden zum letzten Mal Nahrungsmittel und Medikamente in die Stadt gebracht. Seither, so Stephen O'Brien, Leiter des UN-Büros für humanitäre Hilfe (Ocha), habe die syrische Regierung jede Anfrage für weitere Hilfskonvois abgelehnt. Und ohne Genehmigung Assads kann die UN keine Nothilfe verteilen.

Nun fordert eine Gruppe von 26 europäischen Parlamentariern, die betroffenen Syrer aus der Luft zu versorgen. "Diese anhaltenden Belagerungen sind eine Schande für Europa", heißt es in ihrem Brief an die Regierungen in London, Paris, Den Haag und Berlin. "Wir alle, das Vereinigte Königreich, Frankreich, die Niederlande und Deutschland, sind im Rahmen der IS-Bekämpfung an Flugeinsätzen im syrischen Luftraum beteiligt. Wenn die UN schon nicht helfen können, haben wir doch die Kapazitäten und sind schon vor Ort." Und: "Wir können nicht länger auf die Erlaubnis des Assad-Regimes warten, die womöglich nie erteilt wird." Zu den deutschen Unterzeichnern gehören unter anderem der CDU-Abgeordnete Roderich Kiesewetter sowie die Vertreterinnen der Grünen, Franziska Brantner und Marie-Luise Beck.

Waffenruhe und Friedensgespräche vor dem Kollaps

Kapazitäten gibt es in der Tat: Keine Kosten und kein militärischer Aufwand werden gescheut, um den "Islamischen Staat" militärisch einzudämmen. So gut wie nichts wird zum Schutz der syrischen Zivilisten unternommen. Bleibt es bei dieser Strategie der vorsätzlichen Unterlassung, könnte in einigen Monaten eintreten, was viele bislang für unmöglich halten: der militärische Sieg des Regimes – vermutlich mit Ausnahme einiger kleiner oppositioneller Inseln und einem geschrumpften "Kalifat" im Osten des Landes.
Denn solange Baschar al-Assad sich bei seiner Kriegsführung mit keinerlei Widerstand konfrontiert sieht, wird er seine Strategie der kollektiven Zerstörung oppositioneller Gebiete ausweiten. Das geschieht in diesen Tagen unter anderem in Aleppo, wo Kampfbomber erneut ein vom Internationalen Roten Kreuz unterstütztes Krankenhaus zerstört haben.

Die Waffenruhe, im Februar von Russland und den USA im Rahmen der Münchner Sicherheitskonferenz in die Wege geleitet, ist faktisch zu Ende, die Genfer Gespräche stehen vor dem Kollaps, und von der Ankündigung in München, humanitäre Hilfe zuzulassen, ist so gut wie nichts zu sehen.

Fast sämtliche Kampfparteien in Syrien setzen Hunger als Waffe ein, aber keine so systematisch wie das syrische Regime mit seinen internationalen Bodentruppen aus dem Iran, dem Irak, Russland und dem Libanon. Die UN gehen von rund 400.000 betroffenen Zivilisten aus. Nach Berechnungen der NGO Siege Watch, ein Zusammenschluss der niederländischen Organisation Pax und dem amerikanischen Syria Institute,  befinden sich rund eine Million Zivilisten unter Belagerung. Das heißt: Ihre Versorgung mit Nahrung, Wasser und Medikamenten wird durch bewaffnete Gruppen gedrosselt oder ganz abgeschnitten, sie selbst können ihre Städte gar nicht oder nur durch Tunnel oder nach Zahlung hoher Bestechungsgelder verlassen. Rund 90 Prozent der betroffenen Gebiete sind von Assad-loyalen Truppen umringt.

Es ist eine ebenso leise wie tödliche Waffe. Nach Angaben von syrischen Ärzte-Organisationen sterben ebenso viele Menschen in diesem Krieg durch Bomben wie durch oft systematisch erzwungenen Hunger und Krankheit.

"Rosinenbomber für Syrien" ist keine neue Forderung. Sie wurde laut, als im Januar Fotos von abgemagerten Kindern aus der oppositionellen Stadt Madaja auftauchten. Dort sind mehrere Dutzend Einwohner an den Folgen von Mangelernährung und Krankheit gestorben. Madaja ist inzwischen Teil eines zynischen Deals zwischen Regime und Rebellengruppen, die ihrerseits zwei Städte belagern und die Erlaubnis für Hilfskonvois von der Lockerung der Belagerung in Madaja abhängig machen. Die wenigen Güter, die seither per Lastwagen verteilt werden konnten, sind längst aufgebraucht.