"Lebe jeden Tag, als wäre er dein letzter" war lange eine Poesiealbumsweisheit, die im Alltag nur bedingt funktionierte. Sie meinte vor allem: Wir sollten genießen, unsere Träume verwirklichen, all die Dinge tun, die das Leben so lebenswert machen, wenn man einer anderen Poesiealbumsseite glauben mag, nicht nur arbeiten, nicht nur müssen. Dieser Spruch bedeutet, wir sollen aus dem Vollen schöpfen, weil er davon ausgeht, dass wir das nicht tun und dass zum Leben jener Alltag nicht gehören sollte, der eben nicht immer glamourös und erzählenswert ist.

Doch genau dieser Alltag gehört dazu. All die kleinen Nebenbeidinge, das Zwischendurch, das Unbedachte. Und das zeigt sich auch in den Dingen, die wir mittlerweile hinterlassen, wenn wir sterben. Es gibt nicht mehr nur den einen Abschiedsbrief, den Schuhkarton unter dem Bett mit den Erinnerungsstücken, nicht mehr nur das geheime Schließfach oder das Tagebuch. Wenn wir sterben, bleiben Daten auf Hardware und in sozialen Netzwerken gespeichert, die unser Leben zeigen, wie es war. All die Playlisten und Einkaufszettel, Videos, Fotos, Notizen und Tweets, all die Konten und Überweisungsaufträge, die nervigen Mailwechsel und schönen SMS-Konversationen, unsere Joggingstrecken, Sprachmemos, Emoji-Haufen und diese eine Sekunde, in der wir aufgehört haben, eine Serie zu schauen, weil wir eingeschlafen sind.

Nach dem Attentat in einem Club in Orlando, bei dem am 12. Juni 49 Menschen ums Leben kamen, konnte man im Internet einen Chatverlauf zwischen einer Mutter und ihrem Sohn nachlesen, einen Dialog aus den Minuten vor seinem Tod. Die Mutter von Eddie Justice veröffentlichte die Nachrichten von Angst, Liebe und der Gewissheit, gleich zu sterben, diesen innigen Moment inmitten einer Tragödie. Auf Tausenden von Bildschirmen leuchten die letzten Worte von Eddie Justice, immer wieder.

Auch sie sind Überbleibsel eines Lebens, das plötzlich endete, eines Alltags, einer Verbindung zu anderen Menschen, Beweise für eine Existenz. Geschriebene Dialoge mit anderen, die unseren Tod überdauern, sind Teil unseres Vermächtnisses, das nun ausführlicher ist als früher, detaillierter. Mit ihm verändert sich auch, wie wir erinnert werden. Wir hinterlassen nicht nur Digitalabonnements und eine Steuernummer, sondern digitale Momentaufnahmen, Emotionsschnipsel, Schnappschüsse der Unmittelbarkeit. 

Wir verlängern den Abschied

Einsatzkräfte, die in der Nacht vom 12. Juni, den Club Pulse betraten, berichteten von den klingelnden Telefonen in den Taschen jener, die erschossen worden waren. Schon kurze Zeit später wurden Bilder von Opfern gezeigt, entnommen den Facebook- und Instagram-Profilen. Die Verstorbenen bekamen ein Gesicht, ihr Alltag eine Öffentlichkeit. Das, was zu Lebzeiten für Vermessbarkeit und Überwachung steht, wird nach dem Tod zu einem Schrein für Angehörige und Freunde. Früher gab es keine digitalen Aufzeichnungen des lauten Lebens, das man miteinander führte, wir hatten keine automatischen Belege unserer Gute-Nacht-Gespräche, der Witze, des Zufalls. Heute speichern wir Chatverläufe und unendliche Fotoalben. Sie sind mittlerweile so bedeutsam wie gegenständliches Erbe, eng verflochten mit Erinnerungen und einem Alltag, der plötzlich noch bedeutsamer ist, weil er nie mehr Alltag sein wird.

Die Kleinigkeiten des Lebens wie SMS und digitale To-do-Listen sind das, was übrig bleibt, wenn der Mensch dazu und ein Leben mit ihm nicht mehr zurückkommt. Sie sind wie die unachtsam weggeworfene Socke im Zimmer des Verstorbenen. In den hinterlassenen Daten wandert man genauso herum wie in seiner Wohnung. Meistens ist man leise, häufig ist man dabei allein. Man schaut sich um, nimmt manches in die Hand und stellt es wieder zurück. Man sitzt dann da inmitten dieser Dinge und kann es nicht fassen, streicht mit der Handfläche über die Bettdecke, in der jemand eben noch lag. Man sieht den Stuhl an, auf dem eben noch jemand saß. Man lässt das Fenster geschlossen, damit der Geruch nicht verfliegt. Wir halten uns an dem fest, was einmal jemand anderem gehörte in der Hoffnung, darin noch etwas von ihm zu finden. Das Gefühl, derjenige könne jeden Moment zur Tür hereinkommen, oder mit einem Anruf auf dem eigenen Bildschirm auftauchen, geht so schnell nicht weg.

Doch wenn wir die Schränke ausräumen, wird es real. Wenn wir die Dinge desjenigen aussortieren, der nicht mehr weiterlebt, wenn wir entscheiden, was bleiben darf und gehen muss. Wenn wir das letzte Mal die Wohnung abschließen oder abschließen lassen, gibt es kein Zurück. Deswegen klammern wir uns an das, was wir noch eine Weile mitnehmen können. Dateien wiegen nicht so viel. Wir verlängern den Abschied, erneuern die Erinnerung mit jedem Blick auf ein Foto, einen geschriebenen Satz, wir lassen nicht los. Erst einmal nicht. In einer Situation der totalen Kontrolllosigkeit, wie der Tod sie nun einmal ist, holen wir uns so ein Stück Selbstbestimmtheit zurück. Wir geben vor, noch ein kleines bisschen beieinander zu sein, halten die Luft an. Manchmal sprechen wir sogar mit dem Toten, und wenn es nur in Gedanken ist. Wir entscheiden selbst, wann wir die Bilder auf eine andere Festplatte ziehen, wann wir das digitale Zimmer verlassen. Und auch, wann wir dorthin zurückkehren.

Ist es eine morbide Faszination, die uns immer wieder durch die digitalen Hinterlassenschaften jener blättern lässt, die es nicht mehr gibt? Vom Bildschirm aus kriechen wir noch einmal zwischen die Dinge, zwischen Urlaubsfotos und Statusmeldungen, Likes und gefavte Tweets. Eben wurden das Profil noch verwendet, eben wurde noch eine Nachricht geschrieben, vielleicht sogar veröffentlicht, nun liegt das Profil brach. Keine Nachricht mehr. Als würden diese Dinge den Übergang markieren, diesen schmalen Grat, den wir sonst nie zu fassen kriegen, die Linie zwischen Leben und Tod. Ein Facebook-Profil wird nicht abgesperrt von Einsatzkräften der Polizei, ein Twitter-Account bleibt so lange, bis sich jemand seiner Löschung annimmt.