ZEIT ONLINE: Herr Boyle, in einem Artikel für den New European beschreiben Sie den Brexit als Ergebnis einer englischen Identitätskrise. Was meinen Sie damit? 

Nicholas Boyle: Zuerst einmal: Das Argument, dass vor allem die sogenannten Abgehängten, die Globalisierungsverlierer für den Brexit gestimmt haben, ist falsch. Die ärmsten Regionen in Großbritannien liegen in Schottland und Nordirland. Dort hat eine bedeutende Mehrheit für den Verbleib in der EU gestimmt. 

Die britische Premierministerin Theresa May und weite Teile der konservativen Partei wollen Großbritannien stärker für den Weltmarkt öffnen. Die Globalisierung wird als Alternative zur EU präsentiert. Dafür hat die Leave-Seite im Vorfeld des Referendums offen geworben. Was nie zur Sprache kam: Dass die EU eine lokale Organisation von Staaten ist, die sich vor der Wucht der Globalisierung schützen will. Viele führende Brexit-Befürworter möchten das Land dieser Wucht aussetzen. Was aber ebenfalls mit dem Brexit verbunden ist, ist ein unbewusster englischer Nationalismus. 

ZEIT ONLINE: Wieso ist dieser Nationalismus "englisch" und nicht "britisch"? 

Boyle ist seit 2006 Schröder Professor of German in Cambridge und seit 1968 Fellow des Magdalene College. 1996 bis 2001 stand er der Fakultät für Germanistik in Cambridge vor. © privat

Boyle: "Britannien" ist ein Wortkonstrukt, das die Engländer dazu benutzt haben, um das koloniale Verhältnis zu den anderen Nationen auf den britischen Inseln aufrecht zu erhalten. Und auch, um Schotten, Waliser und Iren davon zu überzeugen, sich an der Errichtung des sogenannten Britisch Empire zu beteiligen. Damit geht auch die Vorstellung einher, man sei einzigartig. 

Diese Vorstellung, dass die Engländer anders sind als alle anderen, existiert schon sehr lange. Sie hatte einen gewaltigen Einfluss auf die gesamte gesellschaftliche und politische Struktur des Vereinigten Königreichs: Das Parlament, die BBC, das Bildungssystem, Jugendbewegungen, lokale Verwaltungsstrukturen wurden über mehr als zwei Jahrhunderte entwickelt, um das Britische Weltreich aufrecht zu erhalten. Jetzt, da das Britische Weltreich nicht mehr existiert, hat diese Struktur ihren Sinn verloren. 

Jedoch hat es hier nie so etwas wie Vergangenheitsbewältigung gegeben. Die Identitätsprobleme, die sich daraus ergeben haben, sind nie angesprochen worden. Ob der Brexit dazu führen wird, dieses Trauma zu überwinden, muss sich noch zeigen. Ich habe keinen Zweifel daran, dass das Leave-Votum von imperialistischer Nostalgie geprägt war. 

ZEIT ONLINE: Macht sich das auch im Umgang Londons mit der EU bemerkbar? 

Boyle: Ein Merkmal des Britischen Weltreichs war es für mehr als zwei Jahrhunderte, dass die Briten nicht dazu gezwungen waren, sich mit irgendjemandem auf Augenhöhe auszutauschen, insbesondere nicht mit anderen europäischen Mächten. Sie haben ihr Schicksal im Empire gesehen, in dem es keine Gleichberechtigten gab. Darauf war die britische Identität aufgebaut. 

Ein amerikanischer General hat einmal gesagt: Die Briten werden nie in einem Club glücklich sein, in dem sie nicht das Sagen haben. Und das ist leider weiterhin der Fall. Das ist natürlich gegenüber anderen Ländern sehr beleidigend, vor allem gegenüber anderen EU-Ländern.