Bevor ich anfing zu studieren, hielt ich mich für ziemlich klug. Nachsichtig erklärte ich meinen Mitschülern, was ich begriff und sie nicht. Die 15 Punkte im Abi verstand ich als Garantie dafür, dass aus mir etwas Großes werden würde, sobald ich mein 1.000-Seelen-Dorf verließ. Für meinen Bachelor lag der NC bei 1,2. Umgeben von 150 Lehrerlieblingen, Klassenbesten und Allgemeinbildungsnerds war ich plötzlich spektakulär durchschnittlich. Wie konnte ich beweisen, auch wirklich hierher zu gehören?

Reichen drei abonnierte Tageszeitungen für ein Politikstudium? Wie viele Bücher muss eine Literaturstudentin in ihrem Leben gelesen haben? Weil es auf diese Fragen keine klaren Antworten gab, hielt ich mich an messbare Werte wie die Fremdwörterdichte eines Wortbeitrags.

Ich nickte mit ernster Miene, wenn jemand von der immanenten Bedeutungsdimension des semiotischen Raums sprach und machte mir gleichzeitig eine mentale Notiz für mein Abendprogramm: Literaturtheorien googeln. Wenn es um Marx ging, wechselte ich unauffällig das Thema – bevor jemand herausfinden konnte, dass ich im Sommer zwischen Abi und Uni nicht in meinem alten Kinderzimmer Das Kapital gelesen hatte. Ich stellte fest: "Es geht darum, den Diskurs zu dekonstruieren" ist in der Uni eine in jeder Situation anwendbare Notfall-Antwort.

Dass ich niemals eine Olympiamedaille oder einen Oscar gewinnen würde, war mir immer klar gewesen.

Im Seminar verkniff ich mir meine Fragen, um Wissenslücken zu vertuschen. Aus Ehrfurcht vor den vielen schlauen Menschen wurde ich zur stillen Beobachterin. Denn zu Beginn eines jeden Semesters gab sich im überfüllten Seminarraum mindestens ein studentischer Inquisitor zu erkennen – bereit, darüber zu richten, wer würdig genug war, mit ihm in diesem Kurs zu sitzen. Ich konnte nicht jedes Argument mit einem Hannah-Arendt-Zitat untermauern? Dann hatte es wirklich keinen Sinn, mit ihm zu diskutieren.

Die Toleranzgrenze der Inquisitoren war niedrig und ich mühte mich vergeblich: In zwei Fächern parallel zum Semester mit der wichtigsten Literatur up to date zu bleiben, war unmöglich. Aber warum war mir so wichtig, dass niemand herausfand, dass ich eigentlich keine Ahnung hatte?

Dass ich niemals eine Olympiamedaille oder einen Oscar gewinnen würde, war mir immer klar gewesen. Ich war nie die Schnellste gewesen, dafür die Schlaueste. Wenn Freunde in der Schule meine Eloquenz bewunderten, hatte ich das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Aber damals galt auch bereits als intellektuell, wer für Deutsch die besprochenen Bücher und nicht nur die dazu gehörigen Lektüreschlüssel gelesen hatte. An der Uni hing die Messlatte deutlich höher – und zerstörte das Bild, das ich mir von mir selbst gemacht hatte.

Denn bevor ich nach Berlin zog, hatte ich mich in der Uni von meinesgleichen umgeben gesehen, beseelt von tiefgründigen Gesprächen bei Indie-Musik. Stattdessen fühlte ich mich meistens klein und dumm und versuchte dieses Gefühl zu kaschieren, indem ich prätentiöse Phrasen schwang und Artikel las, die mich nicht interessierten. Ein neues Selbstbild musste her.

Ich merkte, dass ich mit Internationalen Beziehungen mehr anfangen konnte als mit Politischer Ideengeschichte. Ich erlaubte mir, Wirtschaftspolitik öde zu finden, dafür interessierte mich der postsowjetische Raum. 

Jetzt waren wir Ex-Streber zusammen mit unseren Egos auf dem Boden der Tatsachen angekommen.

Es dauerte bis zum fünften Semester, bis ich genug Selbstbewusstsein hatte, um blankzuziehen und bei gewissen Themen einfach mal zu sagen: Davon habe ich keine Ahnung. Und statt mich zu steinigen, fragten meine Kommilitonen: "Okay, was ist denn dein Spezialgebiet?"

Da wurde mir bewusst, dass die Hälfte von ihnen am Anfang genauso verunsichert gewesen war wie ich. Einige hatten ihre eigenen Komplexe mit scharfer Kritik an Mitstudenten kompensiert. Jetzt waren wir Ex-Streber zusammen mit unseren Egos auf dem Boden der Tatsachen angekommen.

Die Grenzen meiner Genialität kennenzulernen, hat mich selbstbewusster gemacht. Jetzt fange ich einen Master an, der zu meinen Interessen passt. Da werde ich von Anfang an mehr vorzuweisen haben als leere schlaue Worte. Und wenn ich trotzdem mal keine Ahnung habe, werde ich mich melden und sagen: Sorry, kannst du das nochmal erklären?