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Panorama Plötzlich Atheist

Das gottlose Experiment eines religiösen Hardliners

Redakteurin
19 Jahre arbeitete Ryan Bell als Pfarrer. Dann entschied er sich für ein Experiment: Er wollte ein Jahr ohne Religion leben. Das ist nun vorbei – und Bell will nicht mehr in den Gottesdienst zurück.

Als Ryan Bell sein „intellektuelles Experiment“ begann, konnte er nicht wissen, wie drastisch sich sein Leben verändern würde. Bell hatte 19 Jahre lang als Pfarrer in einer extrem konservativen, freikirchlichen Gemeinde in Hollywood gearbeitet. Er führte ein sehr religiöses Leben und habe in dieser Zeit vielen Menschen geholfen, dass sie einen Sinn in ihrem Leben finden können, erzählt er in seinem Blog.

Dann aber, im Januar 2014, entschied er sich, das alles ein Jahr lang sein zu lassen und stattdessen das Leben eines Atheisten zu führen. Keine Bibellektüre mehr, keine Gebete, keine Gottesdienste. Es sollte ein Versuch werden, Atheisten zu verstehen und damit einen Trend, denn in den USA sinkt die Zahl der Gläubigen. Jeder Fünfte bezeichnet sich in „God’s own country“ bereits als konfessionslos.

Doch was dann passiert, damit hätte Bell wohl selbst nicht gerechnet. Denn nun ist das Jahr um – und Bell hat nicht nur sein Experiment beendet, sondern auch noch eine andere wichtige Beziehung. „Ich glaube nicht, dass Gott existiert“, sagte der 43-Jährige der „Daily Mail“. „Vorher wollte ich eine engere Beziehung zu Gott aufbauen, heute will ich eine enge Beziehung mit der Realität.“

Job verloren, Frau verloren

Begonnen hatte alles mit der Frage: Welchen Unterschied macht Gott?, schreibt er in einem Blog-Eintrag. Anlass war eine Krise, die er erlebte: Bell war mit seiner Gemeinde wegen seiner Ansichten – unter anderem für die gleichgeschlechtliche Ehe und gegen den Bann von Schwulen und Lesben – aneinandergeraten. Außerdem ging seine Ehe nach 17 Jahren in die Brüche.

Die Zweifel des Mannes, der jahrelang sogar die Evolution bestritten hatte und für den die Zehn Gebote Gesetz waren, wuchsen. Er habe immer mehr kritische Fragen gestellt, aber immer weniger Antworten bekommen, erinnert sich Bell. Deshalb habe er die Grenzen seines Glaubens testen wollen. Die Vorgabe, die er sich selbst machte: „Die nächsten zwölf Monate werde ich leben, als gäbe es keinen Gott.“ Eine Glaubensdiät quasi.

Ein Blogger sammelte Spenden für Ryan Bell, nachdem er nicht mehr an der Hochschule arbeitete
Ein Blogger sammelte Spenden für Ryan Bell, nachdem er nicht mehr an der Hochschule arbeitete
Quelle: gofundme.com

Schon bald bekam er zu spüren, wie seine Siebenten-Tags-Adventisten-Gemeinde auf diese Provokation reagierte: Er konnte nicht mehr als Dozentenstelle an einer christlichen Hochschule nahe Los Angeles arbeiten, obwohl er zwei kleine Töchter zu versorgen hatte. Ein atheistischer Blogger sammelte daraufhin fast 27.000 Dollar, damit er sich über Wasser halten konnte.

Nicht nur sein christlicher Freundeskreis hatte Schwierigkeiten damit, sich mit seinen neuen Ansichten anzufreunden, auch die Öffentlichkeit reagierte gespalten: Einige unterstützten seinen neuen Lebensstil, die anderen beschimpften ihn öffentlich als Teufel oder unterstellten ihm, er sei doch bloß schwul und habe deshalb ein Problem mit dem Christentum.

Angst vor dem Atheisten-Outing

Aber Bell merkte auch, dass er nicht allein war mit diesen Erfahrungen: „Ich habe mit vielen Atheisten gesprochen, die sich nicht zu outen trauen, weil sie dann ihre Familie oder Freunde verlieren würden“, berichtet Bell in einem Internetvideo in seinem Blog, dessen Einträge hundertfach kommentiert wurden.

Und noch etwas überraschte ihn: Je mehr Zeit verging, desto wohler fühlte sich Bell mit seinem gottlosen Leben, zitiert ihn die „Los Angeles Times“. Er fand eine neue Stelle als Lehrer und arbeitet nun mit Obdachlosen. Und er traf sich auch wieder mit Frauen. Verliebt habe er sich ironischerweise ausgerechnet in eine Gläubige, berichtet Bell. Sie sei aber aufgeschlossen für seine kritischen Fragen und seine Haltung.

Heute bezeichnet sich Bell – über den demnächst eine Dokumentation in den USA ausgestrahlt wird – als Humanisten und „wachen Atheisten“, der zufrieden sei, nicht alle Antworten auf den Sinn des Lebens zu haben.

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