Unser jüngster Sohn ist gerade vier geworden. Am Abend sitzen die Frau und ich zusammen auf dem Sofa und unterhalten uns über unser Kind. Sie erzählt mir, dass er ihr einen Vortrag über das Sonnensystem gehalten hat. Alle Planeten konnte er aufzählen, sagt sie, und sogar den roten Fleck des Jupiters habe er ihr erklärt. "Toll, oder? Woher weiß er so was bloß?" Sie schaut mich an, ich lächle nervös. "Tja, ähm, ich war doch mit ihm im Museum für Naturkunde … ", sage ich, nicke eifrig, " ... daher bestimmt." Das ist zwar nur die halbe Wahrheit. Aber irgendetwas, wahrscheinlich der väterliche Überlebensinstinkt, sagt mir, dass es jetzt einfach nicht besonders klug wäre, das Planetenlied-Video auf YouTube zu erwähnen.

Die Frau und ich haben leicht abweichende Ansichten darüber, was und wie viel der Kleine im Internet sehen darf. Unsere Maßstäbe variieren etwas, je nach Tageszeit und Situation, aber das Planetenlied würde sie wohl immer auf den Index setzen. Es ist musikalisches Polyethylen in Bonbonrosa, als hätten Rolf Zuckowski und die Teletubbies zusammen LSD genommen und sich anschließend in einem Tonstudio eingeschlossen. Im Video fährt die Hauptfigur, Bob die Bahn, fröhlich durch ein buntes Weltall, der Merkur trägt eine Sonnenbrille und die Planeten hüpfen im Viervierteltakt, ein toxischer Ohrwurm der übelsten Sorte. Unser Sohn liebt das Video. Und ich bin der Typ, der ihn so etwas ansehen lässt.

Entsprechend irritiert war ich, als ich kürzlich eine E-Mail von einem Bundesministerium bekam. Ob ich nicht als Juror an einem Preis für den verantwortungsvollen Umgang mit Medien mitwirken wolle. Vielleicht vergeben sie auch einen Sonderpreis für den verantwortungslosesten digitalen Vater der Welt, dachte ich, und haben deshalb an mich gedacht. Die Regierung muss doch wissen, was auf meinem Telefon so vor sich geht. Ich bin auch schon als Experte zu medienpädagogischen Kongressen eingeladen worden, bestimmt brauchten sie noch jemanden für die Rolle "Schwarzes Schaf".

Kurz habe ich also zumindest überlegt, wie ich die Bedeutung von YouTube-Videos für die kindliche Allgemeinbildung verargumentieren würde. Aber am Ende sage ich diese Anfragen immer ab. Ich habe einmal auf einer Tagung von Deutsch-Lehrern die These vertreten, dass Kinder, die heutzutage mit Laptops und Smartphones aufwachsen, doch wirklich keine Schreibschrift mehr lernen müssten. Meine Idee war, damit ein bisschen Leben in die Veranstaltung zu bringen. Sagen wir es so: Mein Beitrag wurde kontrovers diskutiert. Und mein Bedarf an Auftritten als Experte für die dunkle Seite der Digitalisierung von Kindern ist auf Jahre hin gedeckt.

Es ist ja nicht so, dass ich nicht auch selbst manchmal ein schlechtes Gewissen habe, wenn ich das Kind wieder Internet-Videos gucken lasse. Na ja, zumindest wenn ich währenddessen wach bin. Oft schlafe ich auch. Ein ganz normaler Tag fängt bei uns im Moment nämlich so an, dass der Kleine um 5.35 Uhr neben meinem Bett steht und sagt: "Papa, nicht schlafen!" Mir geht dann durch den Kopf, dass es für einen Vierjährigen sicher das Beste wäre, wenn wir in sein Zimmer gehen und Raumschiffe aus Lego-Steinen und Eisenbahnnetze bauen, Schach spielen oder zusammen etwas lesen. Manchmal machen wir das auch. Manchmal bin ich dafür aber einfach zu müde. Dann benutze ich das Internet zur digitalen Selbstverteidigung. Eine halbe Stunde Handy gegen eine halbe Stunde mehr Schlaf, so lautet unser Deal. Ist das schon ein Fall für das Jugendamt?

Sollten die Beamten mitlesen: Ich öffne immer zuerst die App der Sendung mit der Maus, damit das Kind öffentlich-rechtlich produziertes Qualitätsbildungsfernsehen des WDR guckt. So erfährt es, wie Luftballons oder Zahnspangen hergestellt werden. Wie Heuballen zusammengebunden werden. Oder wie die Umkleide-Kabine der deutschen Fußball-Nationalmannschaft vor einem Spiel präpariert wird. Wir haben da schon viel gelernt. Wenn ich den Unterschied zwischen einem Schweinswal und einem Weißschnauzendelfin wissen will, frage ich meinen Sohn.

Allerdings ist das Kind in Sachen Medienkompetenz mittlerweile so weit, dass er weiß, wie man eine App schließt und eine andere öffnet. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie er, ohne schreiben zu können, nach neuen Videos auf YouTube sucht, aber es funktioniert. Seine YouTube-Playlist gibt bisher keinen Anlass zur Sorge: Er mag Zeichentrickserien wie Albert auf Entdeckungstour oder die kanadische Serie Caillou, die guckt er aber immer auf Portugiesisch. Filme mit Lego-Figuren auf Japanisch, Knetfigurenfilme auf Russisch. Zuletzt war eine Doku des Vice-Magazins dabei über die Unterschiede zwischen Inuit und Eskimos. Das Kind scheint sprachbegabt zu sein.

Natürlich gibt es auch Momente, in denen ich dem Impuls nicht nachgebe, nicht schwach bin, sondern Verantwortung übernehme. Am Pfingstsonntag zum Beispiel: Der sechsjährige Cousin des Kindes ist zur Geburtstagsparty angereist, die Jungs spielen zusammen. Der Ältere erzählt von einem Lego-Spiel auf dem Handy. Mein kleiner Sohn ist interessiert, sehr interessiert. Irgendwann lade ich die App Lego Creator Islands herunter und zeige dem Kind, wie sie funktioniert. Man muss Lego-Fahrzeuge und Häuser zusammenbauen, Inseln besiedeln und goldgelbe Bauklötzchen sammeln. Anderthalb Stunden später baue ich die Eisenbahnlinie auf Insel 3 und bin sehr zufrieden mit mir, 102 Klötzchen! Das Kind spielt währenddessen ganz friedlich mit seinem Playmobil-Drachen.