Phase 1: Ahnungslos

Sebastian ahnt nichts, als er die Möbel und Kisten über die Schwelle seines neuen Zuhauses schleppt. Endlich ein WG-Zimmer in Berlin, wo er einen Studienplatz bekommen hat, die Mitbewohner wirken entspannt. Doch bald wird Sebastian das Gefühl haben, ein Fremder im eigenen Zuhause zu sein. Was er nicht weiß: Schon beim Einzug warten die Blutsauger auf ihn. Noch verstecken sie sich hinter Tapeten und in Steckdosen, hinter Lichtschaltern und im Holzregal. Platt, zusammengekauert und geschwächt vom letzten Kampf.

Kurz nach dem Einzug steht Sebastian, der eigentlich anders heißt, in der Tür seines Mitbewohners Max. Er lehnt sich an den Türrahmen. "Wieso ist der so glitschig?", fragt Sebastian. "Ach so, das ist Vaseline. Die war gegen die Bettwanzen", entgegnet Max.

"Aber die sind jetzt weg?"

"Jaja, ist vorbei."

Die Bettwanzen stammen von einem kanadischen Couchsurfer. Max hat sie selbst bekämpft und noch ist er zuversichtlich, dass sie ein für alle Mal verschwunden sind. Sebastian denkt sich nicht viel dabei, er verdrängt.

Seine These: Bettwanzen fressen sich gegenseitig auf.

Bettwanzen begleiten die Menschheit schon lange. Erste Zeugnisse sind die Theaterstücke des griechischen Dichters Aristophanes aus dem dritten Jahrhundert vor Christus. Und auch an dem Blut der ägyptischen Arbeiter, die die Pyramiden bauten, labten sich die Tiere. Das beweisen Fossilien der kleinen lichtscheuen Insekten, die bei Ausgrabungen gefunden wurden. Seit Anfang des vergangenen Jahrhunderts untersucht die Wissenschaft Bettwanzen etwas näher. 

1905 beschrieb der amerikanische Arzt Charles A. R. Campbell seine heutzutage abstrus erscheinenden Experimente an Bettwanzen. Er versuchte, sie zu ertränken. Ohne Erfolg, sie überlebten fünf Stunden in einem Wassertank. Seine nächste These: Bettwanzen fressen sich gegenseitig auf, sind also kleine Kannibalen, und können bis zu 18 Monate ohne Nahrung überleben. Die Begeisterung darüber, wie anpassungsfähig die Wanzen sind, beflügelte Campbells Fantasie: "Die Gerissenheit dieser Insekten ist beachtenswert, und es zeigt sich, dass sie, zu einem gewissen Grade, die Fähigkeit haben, zu denken." Das ist aus heutiger Sicht wissenschaftlicher Unsinn.

Phase 2: Die Blutsauger kehren zurück

Ein halbes Jahr später sind die Bettwanzen zurück, zuerst nur in Max' Zimmer. Der rückt alle Möbel in die Mitte des Raums, schraubt die Fußleisten und die Steckdosen ab und sprüht das Zimmer mit Insektiziden aus dem Baumarkt ein. In einem großen Bogen hat er um sein Bett einen Klebestreifen angebracht. Seine Sachen hat er eingepackt und eingefroren.

Eine ganze Weile versucht Max, die Plage selbst zu bekämpfen, aber eines Abends gibt er auf. Am nächsten Tag will er einen Kammerjäger rufen. In derselben Nacht durchsuchen Max und Sebastian die Wohnung nach weiteren Wanzen. Mit einer Taschenlampe leuchten sie in all die Ritzen und Ecken, die Sebastian vorher nie aufgefallen waren.

In der Abstellkammer fliehen Tiere vor dem Lichtkegel der Taschenlampe, genau wie im Flur. Die Plage hatte sich ausgebreitet. Und dann findet Sebastian zum ersten Mal Bettwanzen in einem Holzregal in seinem Zimmer. Sie hausen auch in seinem Zimmer. Die eindeutigste Spur sind die Kotspuren der Blutsauger, kleine schwarze Punkte in einem Buch, das lange im Regal lag. Es ist ausgerechnet Moby-Dick – Mensch gegen Tier in epischer Länge.

Ihr einziges Nahrungsmittel ist Blut.

"Wir hätten viel früher einen Kammerjäger holen sollen", sagt Sebastian. "Aber wir dachten zu lange, wir kriegen das auch selbst in den Griff."

Bettwanzen sind wählerisch: Ihr einziges Nahrungsmittel ist Blut. Sie richten es sich in der Nähe von Warmblütern – Hühnern, Ratten, Fledermäusen und besonders gern Menschen – ein. Nachts kommen die wenige Millimeter großen Tiere aus ihren Verstecken in Büchern, Holzmöbeln, Steckdosen, Kleidung und hinter der Tapete hervorgekrabbelt und suchen sich an ihren Opfern ein Blutgefäß, das sie normalerweise gleich mehrmals, oft in einer Reihe, anzapfen. Dann verschwinden sie wieder. Krankheiten übertragen die Krabbeltiere nicht. Oft fallen sie nur durch Stiche auf, manchmal beginnt zusätzlich die Wohnung süßlich zu riechen. Zu Gesicht bekommt man die kleinen Krabbeltiere selten.

Phase 3: Der letzte Rückzugsort

Der Kammerjäger inspiziert die Wohnung, verscheucht die Wanzen mit einem Treibgift aus den Verstecken und sprüht ein Kontaktgift für die nachschlüpfenden Tiere auf den Boden, wie einen Bannkreis. Sebastian trifft trotzdem seine eigenen Vorkehrungen: Er wäscht seine Kleidung bei 60 Grad und friert seine Schuhe und Bücher ein – alles probate Mittel gegen die Wanzen. Er kauft sogar eine geräumige gebrauchte Kühltruhe, um mehr Dinge einfrieren zu können.

Und das nicht befallene Bad wird zur Quarantäneschleuse. Alle sauberen Sachen kommen dorthin. Immer wenn er nach Hause kommt, zieht Sebastian seine Schuhe und Socken schon im Treppenhaus aus und lässt sie dort stehen. Dann geht er barfuß und ohne Umwege ins Bad und zieht sich um. Wenn er das Haus verlässt, macht er es andersherum: erst ins Badezimmer und saubere Sachen anziehen, dann barfuß zu den Schuhen im Treppenhaus. So will er sichergehen, dass er keine Bettwanze, die sich in seiner Kleidung versteckt, aus der Wohnung nach draußen schleppt – zu seinen Freunden. Sebastian ruft alle Freunde an, die er in letzter Zeit besucht hat, um sie zu warnen: Du könntest Bettwanzen haben! Er fühlt sich wie ein Aussätziger.