Es gibt eine Eigenschaft, die wir Journalisten mit vielen Leserbriefschreibern teilen: Das Loben fällt uns schwer – vor allem wenn es um real existierende politische Projekte geht. Normalerweise ist das kein Problem. Demokratien sind ja gerade dann stark, wenn kluge Bürger, eine wache Opposition und eine kritische Presse beständig auf Fehler der Regierenden hinweisen. Nur so können diese gefunden und repariert werden. Mit Glück schnell, manchmal aber auch erst nach einer oder mehreren Wahlen.

Leider nur hat dieser Mechanismus einen unangenehmen Nebeneffekt: Tagtäglich werden uns dadurch die Probleme so heftig um die Ohren gehauen, dass wir das Positive leicht vergessen.

Genau das scheint vielen Briten passiert zu sein. Und viele sind ganz offensichtlich darüber erschrocken: Warum sonst sollten sie NACH der Brexit-Abstimmung bei Google plötzlich fragen: Was ist die EU? Um dann erstaunt zu lesen, dass es in Brüssel eben nicht vor allem um die Krümmung der Gurke und anderen Unsinn geht. Sondern auch um ganz sinnvolle Dinge.

Uns Rest-EU-Europäer könnte das eine Lehre sein. Zumindest ging es mir am Wochenende so. Auch ich kenne, wie wir alle, jede Menge Gründe, um diese real existierende EU heftig zu kritisieren. Gerade in der Handelspolitik habe ich das im vergangenen Jahr oft genug getan. Aber instinktiv wurde mir am Wochenende klar, dass ich diese EU nicht missen möchte. Dass sie bei allen Problemen, die sie hat, eben viel besser ist als keine.

Und genau deswegen wünsche ich mir seither mehr denn je eine Ruckrede: Von unserer Bundeskanzlerin, vom Kommissionspräsidenten oder von einem der vielen anderen Regierungschefs, die sich heute in Brüssel zum Krisengipfel treffen. Ich möchte von den Spitzenpolitikern nicht vor allem hören, wie sie die Briten abwickeln wollen.

Dieser Teil der EU sollte ganz schnell zu Geschichte werden, so traurig ich das finde: Die Briten haben sich entschieden. Das sollten wir ernst nehmen. Es darf nun aber nicht zum Hauptthema der kommenden Monate werden. Ich will jetzt vor allem hören, was die verbleibenden 27 Regierungen aus diesem Europa machen werden und warum es wert ist, weiter zu existieren.

Ideen gibt es doch genug: Weil sich der Klimawandel nicht national bekämpfen lässt. Weil wir gemeinsam leichter Frieden schaffen können. Weil wir zusammen die Handelspolitik weltweit eher reformieren, die Globalisierung gerechter gestalten und den Schutz von Umwelt und Menschen besser durchsetzen können. Weil wir Europäer gemeinsam leichter solidarisch mit uns und dem Rest der Welt sein könnten, und die Flüchtlingskrise eher bewältigen. Und weil wir uns doch längst auch als Europäer fühlen und nicht nur als Deutsche, Franzosen oder Litauer. Und trotz aller Unterschiede gut zusammenpassen.

Ich ahne, wie die Leser, die gleich diesen Text kommentieren werden, jetzt schon Argumente sammeln: Warum das alles schöne Phantasien sind. Warum meine Haltung viel zu affirmativ ist, und die EU ein Ärgernis.

Ja, sie ärgert auch mich. Ich finde, sie gehört in vielen Bereichen umgebaut: Sie muss sozialer werden und vor allem demokratischer, die Bürger besser schützen und die Banken weniger. Aber genau deswegen ist es so wichtig, jetzt die Bühne nicht denen zu überlassen, die vor allem über Ausstieg und Abwicklung dieses Projektes reden wollen. Sondern darüber zu streiten, was wir EU-Europäer wollen, wünschen und hoffen.

So haben das übrigens auch die Leute nach dem zweiten Weltkrieg gemacht, die damals völlig fantastisch von einen Europa geträumt haben. Und das ist ihnen, so finde ich, verglichen mit dem, was im Rest der Welt sonst so los ist, wirklich nicht schlecht gelungen. Daraus lässt sich doch was machen.