Meine Geschichte liegt nur am Rande der Tschernobyl-Katastrophe. Ich bin kein Opfer, und doch ist alles, was Tschernobyl angeht, auch meine Geschichte – die verstrahlten Dörfer, die Kranken und die Toten, die vielen Menschen, die ihre Heimat verloren haben, die Kinder, die krank geboren wurden und werden. Tschernobyl ist ein Teil meiner Heimat, mit Flüssen, Wäldern und Feldern, die für immer kontaminiert bleiben.

Im April jährt sich der Reaktorunfall zum dreißigsten Mal. Doch eigentlich ist es falsch, von einem Jahrestag zu sprechen, denn diese Katastrophe kennt keine Vergangenheit. Sie wird unser Leben überdauern, sie übertrifft unsere Vorstellungen von der Zeit und von Zahlen, sie wird sich weiter entfalten in Formen, die selbst für die Wissenschaft unbekannt sind.

In jenen Tschernobyl-Tagen ging meine Kindheit zu Ende. Ich war 16, stieg allein in den Zug und fuhr Richtung Moskau. Ich dachte, es sei für alle Fälle, aber es sollte für immer sein.

Meine Heimatstadt Kiew liegt nur 90 Kilometer südlich von Tschernobyl. Ich ging damals in die 9. Klasse einer zentral gelegenen Schule. Der Unfall geschah in der Freitagnacht. Schon am Samstag gab es Gerüchte in der Schule, da viele Kinder Eltern in hoher Stellung hatten. Einige Väter waren in der Nacht geweckt worden und nicht mehr nach Hause gekommen, unter ihnen der Chef der Feuerwehr, ein Armee-Oberarzt und einige Funktionäre. Es gab einen Gedicht- und Liederabend in der Aula, wir blieben bis spät. Draußen tobte ein Gewitter. Es herrschte eine unbestimmte Vorahnung – als wäre es ein Abschied. Im Regen gingen wir nach Hause. Da war er noch nicht radioaktiv.

Heute erinnert man sich weder an den obligatorischen Militärunterricht noch an die ständige Angst vor dem Krieg. Wir konnten eine Kalaschnikow blitzschnell auseinandernehmen und wussten: Während einer Atomexplosion muss man sich mit den Beinen in Gegenrichtung auf den Boden legen, um zu überleben. Wir wussten von einem Mädchen aus Hiroshima, das seine Leukämie mit tausend Papierkranichen bekämpfen wollte. Wir wussten auch, dass es nicht helfen würde. Wir waren Pioniere und wurden nach dem Motto "Allzeit bereit!" für die Tapferkeit geschult.

Dieser Text stammt aus dem Magazin ZEIT Geschichte Nr. 1/16.

Im April 1986 war niemand bereit. Und niemand wusste Genaues. Meine Eltern hörten "Feindesstimmen", Radio Voice of America und BBC, und haben schnell von der Katastrophe erfahren, aber nicht vom Ausmaß und von den Folgen. "Radioaktive Wolke" klang surrealer als "Landung der Außerirdischen".

Drei Tage nach dem Unfall, als es schon mehrere Tote gab und ganz Pripjat evakuiert wurde, die Stadt, die dem Reaktor am nächsten lag, kam die erste offizielle Meldung über "technische Schwierigkeiten" im Atomkraftwerk Tschernobyl. Meine Eltern verstanden: "Wir", die Menschen, werden wieder alleingelassen, es gab keine Informationen. Jod trinken, Fenster zu, keine Spaziergänge – nicht einmal diese Ratschläge wurden durchgegeben. Als der Wind auf Nord drehte, rief ein Physiker an, ein Bekannter meiner Eltern: "Die Kinder müssen weg. Ich erkläre alles später." Und dann ein Hämatologe – er hatte Krankenakten hervorgeholt und alle seine Patienten angerufen. Meine Eltern dachten keine Sekunde nach. Ich sollte weg. Doch die Schuldirektoren erlaubten nicht, dass Kinder weggeschickt wurden, es hieß, man könne seinen Parteiausweis verlieren, seinen Posten oder auch die Arbeit.

Wie ein Gespenst

So breitete sich die Wolke in den ersten Tagen nach dem Unfall aus:

…

Am 1. Mai, als die Menschenmassen zur Maikundgebung auf den Prachtboulevard Chreschtschatyk strömten, brachten meine Eltern mich zum Bahnhof. Ich fühlte mich als Verräterin, als Feigling, aber ich wusste: Was wir tun, ist besser, als zu bleiben. Als der halb leere Zug sich in Bewegung setzte, hörte ich den Marsch Abschied der Slawin, der jedes Mal aus den Lautsprechern ertönte, wenn ein Zug Richtung Moskau abfuhr. Dieser Marsch hatte alle Kriege begleitet. Durch das Zugfenster schaute ich meine Eltern an. Sie kamen mir so alt vor. Ich weiß nicht mehr, woran ich dachte, denn ich weinte, aber woran sie gedacht haben, weiß ich heute ganz genau. Sie beide sind Kriegskinder, und dieser Marsch war ihre Schicksalsmelodie.