Recep Tayyip Erdoğan hat den Aufstand gegen ihn als "Gottesgeschenk" bezeichnet, weil er "die Reinigung des Militärs" beschleunige. Das ist angesichts des Putsches und der Hunderten von Toten eine interessante Einordnung der Ereignisse. Für den Präsidenten öffnet sich nach dem gescheiterten Armeeputsch tatsächlich eine historische Chance. Die Frage ist nur, ob Erdoğan zur Besinnung kommt und die Volksfeste auf den Straßen zur großen türkischen Versöhnung nutzt – oder ob er einfach nur durchzieht, was er sowieso die ganze Zeit tun wollte: seine Macht zu perfektionieren.

Die ersten Anzeichen sind verwirrend. Die Menschen feiern parteiübergreifend, das Parlament stellt sich in einer gemeinsamen Erklärung hinter Erdoğan. Gleichzeitig läuft eine beängstigende Reihe von Verhaftungen, werden Soldaten von der Menge auf den Straßen gelyncht. Wie hat sich Erdoğan früher in ähnlichen Situationen verhalten?

Denn es ist nicht der erste Putschversuch, den Erdoğan erlebt. Im Frühjahr 1998 wurde die Wohlfahrtspartei verboten, für die er Bürgermeister von Istanbul war. Nachdem das Militär die damalige islamistische Regierung abgeräumt hatte, musste Erdoğan ins Gefängnis, weil er einen nationalistischen Dichter zitiert hatte. Im Frühling 2007 schickte die Armee dem Ministerpräsidenten Erdoğan eine Putschwarnung per Interneterklärung. Danach versuchte das radikal-säkulare Establishment, Erdoğans Partei und seine Regierung zu verbieten. Der Putschversuch vom 15. Juli 2016 ist der dritte, den er als amtierender Politiker erleben muss.

Als Versöhner hat sich Erdoğan leider nur einmal gezeigt. Nach dem Gefängnisaufenthalt von 1999 gründete er 2001 mit einigen Mitstreitern die AKP, die zunächst ein Sammelbecken für Konservative aller Schattierungen wurde. Später öffnete sie sich für türkische Liberale und Linke und wurde zu der türkischen Reformpartei, die erreichte, was säkularen Parteien zuvor nie gelungen war: die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen. Doch nach dem Putschversuch von 2007 rächte sich Erdoğan. Zahlreiche tatsächliche Putschisten und unbeteiligte Oppositionelle wurden ins Gefängnis gesteckt. Es begann die Beschädigung der Demokratie im Namen der Demokratie.

Die Gülen-Verschwörung ist unglaubwürdig

In den Stunden und Tagen seit dem Putsch bekam Erdoğan bemerkenswert viel Zuspruch. Gleich in den ersten Stunden stellten sich nicht nur AKP-Anhänger, sondern auch die Oppositionsparteien und die von der Regierung verfolgte Gülen-Bewegung hinter ihn. In der Nacht – noch bevor die Putschisten zusammengebrochen waren – kamen die eindeutigen Solidaritätserklärungen der Bundesregierung, der EU, der US-Regierung für Erdoğan. So viel Unterstützung war nie.

Der türkische Präsident könnte mit dieser Gewissheit den Türken und der Welt die Hand zur Versöhnung reichen. Leider sieht es nicht danach aus.

Die Entlassung von über 2.700 Richtern am ersten Morgen nach dem Putschversuch zeigt: Hier geht es nicht um eine rechtsstaatliche Aufarbeitung, sondern um die große Abrechnung. Es ist unwahrscheinlich, dass rund 20 Prozent der türkischen Richterschaft in den Aufstand verwickelt waren. Vielmehr deutet die Verhaftung vieler Richter darauf hin, dass Erdoğan die Unterwerfung des Justizapparats unter seine Exekutive komplettiert. Wie ein Racheakt wirkt auch der Vorwurf an die religiöse Bildungsbewegung des Predigers Fethullah Gülen, sie stehe hinter dem Putsch. Es ist schlicht absurd, dass eine religiöse Bewegung das abgeschottete türkische Militär dermaßen durchdringen könnte, geschweige denn, dass absolut säkulare Generäle sich von einem Prediger ihre Operationen diktieren ließen. Die angebliche Gülen-Verschwörung verkommt so zur Chiffre für die unterschiedslose Verfolgung von Oppositionellen.

So deutet am Tag zwei nach dem Aufstand vieles darauf hin, dass Erdoğan die Ereignisse als historische Chance begreift, seine Macht zu festigen und jegliche Opposition zu ersticken. Ginge diese Strategie auf, würde Erdoğan den Sieg der Türken über die Putschisten in die große Niederlage der türkischen Demokratie verwandeln.